Pilgern auf Französisch
Claude erkundigt sich, ob man in dieser Herberge tatsächlich so viel Wein trinken darf, wie man will. Ja, so viel man will, sagt Raymonde.
Freundlich sagt Clara zu ihrem Bruder: »Und Brot darfst du auch essen, so viel du willst. Popp dich also lieber mit Brot voll, als dich volllaufen zu lassen.«
»Du hast recht, ich sollte mich am besten mit Brot und mit Wein vollpoppen, denn im Schlafsaal dürfte es wohl nichts geben, um richtig zu poppen.«
»Haben Sie bemerkt, wie wortgewandt mein Bruder ist? Ein richtiger Poet!«
Guy will ablenken. »Hat jeder sein Plätzchen gefunden?«
Pierre schimpft. »Ja, nur ich bin im Frauenschlaf-saal gelandet! Sie hätten doch wohl Betten für alle reservieren können, mein Alter!«
»Entschuldigen Sie, aber in Herbergen kann man nicht reservieren, die Ersten können sich die Betten aussuchen.«
»Ja, ganz genau. Anarchische Zustände. Jeder macht, was er will.«
Clara erläutert: »Wenn mein Bruder nicht als Erster bedient wird, sind das für ihn schon anarchische Zustände.«
Pierre: »Schnauze!«
Clara: »Selber Schnauze!«
Wie bei einem Duo in einer gut eingespielten Kabarettnummer schießen »Schnauze« und »Selber Schnauze« immer wie geölt heraus. Bruder und Schwester finden in ihre alten Rollen, in ihre traditionellen Verhaltensmuster, sie finden wieder zu ihren Verunglimpfungen zurück.
Guy wendet sich an die jungen Leute: »Und? Wie geht’s den Füßen?«
Camilles Füße sind völlig zerschunden, Elsas Rücken ist gemartert. Guy fragt sie, wie viel ihr Rucksack wiegt. Elsa weiß es nicht, sie hat ihn nicht gewogen. Guy erklärt ihr, dass das Gewicht des Rucksacks ein Fünftel des Körpergewichts seines Trägers eigentlich nicht überschreiten darf, ideal sind acht Kilo. Das Gewicht ist Feind Nummer eins des Pilgers. Besorgt fragt Ramzi den Coach, ob sein Rucksack denn nicht zu schwer sei.
»O nein, Ihrer nicht.«
Im Frauenschlafsaal bereitet man sich auf die Nacht vor. Pierre kramt seine Sachen auf dem Bett aus, sein Essgeschirr und ein ganzes Sortiment an schicker, praktischer Campingausrüstung, die er systematisch ordnet. Eine Pilgerin ruft ihm zu: »Es würde Ihnen doch nichts ausmachen, kurz hinauszugehen, bis wir uns umgezogen haben, oder?«
»Nein, nein, kein Problem.«
Pierre geht und nimmt seinen Schlafanzug mit. Im Flur zieht er sich um.
Guy, endlich allein, bereitet in der Küche das Essen für den nächsten Tag vor und telefoniert währenddessen mit seiner Frau.
»Ja, alles klar... Jaja, jetzt kann ich reden, die anderen schlafen schon alle... Ich mache das Mittagessen für morgen... Es geht so — am ersten Tag fühlen sie sich immer total erledigt... In der Gruppe sind drei Geschwister, die sich nur zoffen, aber ansonsten ist es okay... Und du?... Was? Wie viel Grad? Hast du den Arzt gerufen?... Natürlich gibt es einen Nachtdienst... Warte, wir finden schon eine Lösung... Ich bin hier mitten auf dem Land, vierhundert Kilometer von dir entfernt, was also soll ich deiner Meinung nach tun?... Nein, ich lasse es nicht gut sein... Hör zu, Claudine, ruf Fred an, ich weiß, dass er im Moment keine Gruppe führt, bitte ihn, die Kleine in die Klinik zu bringen, wenn du dir solche Sorgen machst... Na, dann frag doch Freds Mutter, ob sie nicht auf Coralie und Pierrot aufpassen kann, solange du weg bist... Aber Claudine, ich kann von hier aus nichts unternehmen... Ja ja, du hast die drei Kids am Bein, aber ich muss schließlich arbeiten, damit ihr etwas zu essen habt... Nein, ich mache es dir doch nicht zum Vorwurf, dass du nicht arbeitest... Hör zu, ruf Fred an, er ist ein Superkumpel... Nein, ich will dich überhaupt nicht loswerden... Claudine?«
Claudine hat aufgelegt. Am Ende des Gesprächs ist Mathilde in die Küche gekommen, um ein Glas Wasser zu trinken.
»Entschuldigen Sie bitte.«
»Kein Problem. Meine Tochter ist krank.«
»Oh! Was hat sie denn?«
»Das weiß man nicht, sie hat neununddreißig fünf Fieber...«
»Ja, das ist schlimm, wenn die Kinder krank sind und man nicht zu Hause ist.«
Guy stimmt ihr schweigend zu. Ihre Blicke kreuzen sich, beide wenden die Augen ab.
Mathilde kehrt in den Schlafsaal zurück.
Guy denkt nach. Er sitzt in der Falle. Sein Leben entgleitet ihm. Was hat er sich da auch für einen beschissenen Job ausgesucht! Coach — acht Monate im Jahr unterwegs und den lieben Papi für die Touristen spielen, und seine Kinder wachsen ohne ihn auf. Aus der Traum seiner Jugend — der Traum von Freiheit und
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