Pilgern auf Französisch
kann. Geld macht vielleicht nicht glücklich, aber mit Geld ist man tausendmal besser dran als ohne. Klar? Ich musste mich durchboxen, aber ich habe es geschafft, ich habe Geld, und das habe ich nicht geerbt, sondern selbst erarbeitet. Ich habe nicht darauf gewartet, dass unsere Mutter stirbt, um meinen Arsch in Bewegung zu setzen. Stört es dich etwa, dass ich reich bin? Habe ich dir vielleicht etwas weggenommen? Was kannst du eigentlich — außer schmarotzen? Was? Sag schon! Könntest du das tun, was ich tue? Willst du um fünf Uhr morgens aufstehen und um Mitternacht schlafen gehen? Ich kann mir das bei dir jedenfalls nicht vorstellen. Du bist doch wie alle anderen kleinbürgerlichen Lebenskünstler, die auf die Reichen spucken, die aber ohne Weiteres ihre Eltern umbrächten, um an Geld zu kommen — Hauptsache, sie müssen dafür keinen Finger krumm machen. Du bist doch nur ein armer, verkorkster Versager, der seiner Mutter, seiner Schwester, seinen Frauen und seiner Tochter ständig auf der Tasche liegt. So einen wie dich nennt man einen Don Juan — oder einen Zuhälter. Such’s dir aus! Für mich aber bist du nur ein elender Tagedieb. Also: Sag du mir nicht, was ich tun und lassen soll!«
Claude: »Ich sag dir nicht, was du tun und lassen sollst, ich sage lediglich, dass es warm ist und dass es kein Problem ist, im Freien zu sein, das ist alles. Und was kann ich dafür, dass ich im Gegensatz zu dir nun mal aussehe wie ein Don Juan? Was kann ich dafür, dass Mutter mich mehr geliebt hat als dich? Das konntest du nie verwinden, aber es ist nicht meine Schuld. Und dass Frauen mich mehr lieben als dich, konntest du auch nie ertragen. Aber damit die Frauen einen lieben, reicht es, dass man sie auch liebt, das ist das ganze Geheimnis, Frauen sind nicht kompliziert... Und da ist noch eine Sache, die ich nie so richtig begriffen habe: Wenn du so toll bist und wenn du andere glücklich machen kannst, wie kommt es dann, dass deine Frau noch schlimmer säuft als ich? Ist das nicht sonderbar?«
Pierre stürzt sich mit urplötzlicher Gewalt auf seinen Bruder und will ihn schlagen. Totschlägen. Brüllend geht Clara dazwischen.
Aschfahl vor Angst schreit Mathilde: »Aufhören! Hören Sie sofort auf, sich zu prügeln!«
In ihrer Verzweiflung hat Mathildes Tonfall etwas so Gebieterisches, dass die beiden innehalten, sich beruhigen und ein bisschen verlegen den anderen hinterhergehen, die mittlerweile beim Schulhaus angekommen sind.
Da fängt es an zu regnen — zu prasseln. Es schüttet wie aus Kübeln, sofort bilden sich Sturzbäche, die die abschüssigen Straßen hinabrauschen. Weltuntergangsstimmung.
Die Pilger können nicht einmal mehr ihre Regencapes auspacken. Ehe sie sich versehen, sind sie nass bis auf die Haut.
Schreiend laufen sie auf den Schulhof, der mit Edelkastanien gesäumt ist, und schaffen es unter das Vordach — in einen trockenen Hafen inmitten dieses Orkans.
Guy sucht ein großes Klassenzimmer aus, das zu einem Schlafsaal umfunktioniert wird. Alle setzen ihre Rucksäcke ab und legen Decken aus, damit sie nicht auf dem nackten, kalten Fliesenboden schlafen müssen.
Offensichtlich ist es eine Vorschule. Die winzigen Holzpulte mit der geneigten Schreibfläche wirken zwar rührend, für die Übernachtungsgäste sind sie jedoch nutzlos, also stapelt man sie in einer Ecke aufeinander.
Im Speisesaal hat Guy drei Tischplatten auf Böcken entdeckt; er legt sie auf den Boden. Darauf können sechs Personen schlafen, wenn sie ein bisschen zusammenrücken. Nun braucht er nur noch Schlafplätze für die restlichen drei Pilger...
Guy hat einen Einfall. Mithilfe von Claude und seinem Schweizermesser schraubt er die Wandtafel ab und legt sie auf den Boden.
Sie versuchen, die Kreidespuren von der Tafel zu wischen, doch der Lappen hinterlässt nur noch mehr weißes Puder. Keiner will sein T-Shirt opfern, also bleibt die Tafel weiß.
Ausführliche Diskussionen: Wer schläft wo? Said und Ramzi teilen sich eine Tischplatte, und ganz zufällig landen Camille und Elsa auf der Tischplatte daneben. Unter dem Vorwand, der eine könne unmöglich auf dieser Seite, der andere unmöglich auf jener Seite schlafen, und nach großem Hin und Her mit ihrem jeweiligen Partner auf der Tischplatte liegen Camille und Said nebeneinander. Geschafft!
Clara und Pierre schimpfen zwar wie die Rohrspatzen, müssen sich aber trotzdem eine Tischplatte teilen. Bleibt noch die Wandtafel; großzügig bietet Guy sie Claude und Mathilde
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