Pilgern auf Französisch
ziehen zwei Flaschen Schnaps heraus, die in Jacken eingewickelt waren und die Claude nun triumphierend zu den Tänzern trägt. Die Holländer feiern mit, wobei sie einen Schlager grölen, der in ihrem Land wohl sehr populär ist: »Hey la bom-bak, hey la bombak es kapote« (phonetische Umschrift) — ein Ohrwurm, der seine Wirkung nicht verfehlt.
In den Morgenstunden schlafen schließlich alle ein.
Die Holländer schnarchen wieder.
Camille und Said schlafen mit dem Gesicht zueinander, jeweils einen Arm zum anderen hingestreckt, sie halten Händchen und bilden eine Brücke, die ihre jeweiligen Tischplatten verbindet.
Claude und Mathilde schlafen mit angezogenen Beinen auf der Seite, ihre Kleider sind ganz weiß vom Kreidestaub.
Mathilde wacht als Erste auf, das Kopftuch ist ihr heruntergerutscht, ihr schönes Gesicht ist nackt, ihr Schädel kahl. Panisch sucht sie in dem unordentlichen Notlager nach dem Kopftuch, findet es und bedeckt rasch wieder den Kopf.
Guy, der bereits wach liegt, beobachtet sie.
Mathilde vergewissert sich mit einem Blick in die Runde, dass auch ja keiner sie gesehen hat. Guy schließt schnell die Augen und tut so, als schlafe er.
DIE GRUPPE WANDERT über einen Treidelpfad, der oberhalb des Flusses Lot in den steil aufragenden Fels geschlagen ist. Die Pilger bewundern eine Steinformation, die die Wasserstrudel aus den Uferfelsen herausgespült haben.
Elsas Handy klingelt.
»Hey, hier gibt es ja ein Netz! Ich habe eine Nachricht... Meine Mutter, sie sagt, sie konnte Ramzis Mutter nicht erreichen, dort nimmt niemand das Telefon ab.«
Camille, deren Handy-Akku leer ist, fragt Elsa, ob diese bei ihrer Mutter anrufen und sie noch mal bitten kann, mit Ramzis Mutter zu telefonieren und ihr auszurichten, dass es den beiden Jungen gut geht. Seit dem Aufbruch in Le Puy haben sie nicht mehr ihr gesprochen, und sie ist bestimmt schon krank vor lauter Sorge. Aus Angst, sich zu verraten, falls Ramzis Mutter Genaueres über die Fortschritte der Pilgerreise nach Mekka wissen will, traut Said sich nicht, selbst bei Noubia anzurufen.
Claude und Mathilde gehen ein Stück hinter den anderen, sie bleiben vor der Steinformation stehen, Mathilde streicht über die glatten Wölbungen des Felsens, auf dem Stein trifft sich Claudes Hand mit der ihren.
Der Leseunterricht geht regelmäßig weiter, rekapituliert wird auf dem Marsch, wenn das Gehirn gut durchblutet ist.
Eines Tages, als Clara und Ramzi ihre Wäsche an einem Dorfbrunnen waschen, erkundigt sich Clara nach seinen Eltern.
»Mein Vater hat die Bergarbeiterkrankheit bekommen, als ich noch ganz klein war. Staublunge. Er hat in der Kohlengrube von Gardanne in der Nähe von Marseille gearbeitet. Die Freundinnen meiner Mutter sind auch alle Witwen.«
»Ach ja?«
»Als er tot war, is sie zu ihrer Schwester nach Paris gezogen. Und da sind wir nun. Meine Geschwister sind schon alle verheiratet, ich bin zuhause allein mit meiner Mutter. Aber das, was ich dir hier erzähle, muss doch stinklangweilig für dich sein.«
»Nein, ich finde es irre spannend.«
»Hä?«
»Findest du das nicht irre spannend?«
»Nein.«
»Mich interessiert, wie andere Leute leben.«
»Und wie lebst du?«
»Mein Vater hat uns verlassen, als wir klein waren. Keine Ahnung, wieso, er war eben ein Vagabund und ließ sich nicht gern einschränken. Ähnlich wie Claude. Da meine Mutter genügend Geld hatte, haben wir erst spät gemerkt, wie unglücklich wir waren, vor allem sie selbst und meine Brüder.«
»Ja, das is schlimm.«
»Ach, weißt du, wir waren nicht die Einzigen. Damals gab es eine Flut von Scheidungen, es war eine richtige Epidemie.«
»Aber warum zofft ihr euch die ganze Zeit so schrecklich?«
»Das ist stärker als wir. Wenn wir zusammen sind, werden wir wieder zu Kindern, wir können uns nicht ausstehen, fallen uns auf die Nerven...«
»Man könnte aber meinen, ihr liebt euch.«
»Ganz bestimmt nicht!«
»Wie Said und Camille — was sich liebt, das neckt sich.«
»Meinst du, sie sind verliebt?«
»Ja, aber bei den Franzosen is das kompliziert, weil sie den Wert der Familie nich kennen und sie nich so schätzen können wie wir Araber.«
»Ach ja, meinst du?«
»Wir sind nie allein, wir finden immer jemanden, der uns hilft. Said zum Beispiel hat zwei Monate freigenommen, damit er mit mir auf Pilgerfahrt gehen kann. Und dann hab ich noch meine Mutter. Ich bedeute meiner Mutter alles.«
»Und sie bedeutet dir alles?«
»Ja klar.«
»Ja... Sieh mal da,
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