Pilze für Madeleine
Hause, er bekam eine Lungenentzündung. Aber Vater war glücklich.
Als die Schule wieder anfing, war er wie ausgewechselt. Alles wurde anders. Die Klassenkameraden respektierten ihn. Die Quälgeister ließen ihn in Ruhe. Seine Eltern waren stolz auf ihn. Die Lehrer sagten, unglaublich, was ein bißchen Landluft bewirken kann.
Niemand konnte genau sagen, was sich verändert hatte. Die Erklärung war in ihm zu finden. Er wußte, wer er war.
Er ging von nun an allein in den Wald. Den ganzen Herbst über suchte er Pilze und lernte sie mit Hilfe von Büchern aus der Bibliothek zu unterscheiden.
Ein paar Jahre später nahm er Mädchen mit. Mit seinen Pilzgeschichten hatte er sie neugierig gemacht. Sie hörten ihm nicht so genau zu, aber sie sahen seine Leidenschaft, die Glut in den braunen Augen, die Lippen, die so sehr bebten, daß sie über die Wörter stolperten. Er hätte von entlegenen Städten, unerforschten Kontinenten oder fremden Planeten reden können, das wäre gleichgültig gewesen. Die Mädchen wußten, daß er einer anderen Welt, einer Welt voller Wunder angehörte. Er streckte seine Hand aus, berührte sie mit seiner Begeisterung und lud sie ein, mit ihm in diese Welt hinüberzuschreiten: »Möchtest du nächsten Sonntag mit in den Wald kommen?«
Vater lernte immer mehr über Pilze. Er sammelte, las, roch und kostete. Wenn die Literatur ihm in seinem Wissensdurst nicht weiterhalf, stellte er eigene Experimente an. In seinem jugendlichen Leichtsinn ging er bisweilen sehr große Risiken ein, und hinter der Bemerkung »ungenießbar« in seinem Notizbuch verbargen sich teuer erkaufte Erfahrungen in Form von Übelkeit, Erbrechen und Magenkrämpfen.
Allmählich entdeckte Vater die unbegrenzten Möglichkeiten der Pilze.
Man denkt vielleicht als erstes an kulinarischen Genuß. Denn es ging um Genuß. Die meisten wohlschmeckenden Nahrungsmittel enthalten etwas, was gesund für uns ist. Nicht so die Pilze! Weder der beliebte Pfifferling noch die delikate Morchel sind nahrhaft. Ausnahmsweise hat der liebe Herrgott einmal nicht seinen väterlichen Trick verwendet, mit dem er unsere Nahrung bereichert: Proteine in saftigen Fleischstücken und Vitamine in süßen Früchten versteckt. Den Pilz hat er uns nur gegeben, um unsere schändliche Wollust zu befriedigen, beinahe nebenbei, so wie man einem Kind ein Bonbon zusteckt.
Vater lernte auch, daß Pilze wie Medizin wirken können (der blutstillende Stäubling, der wundheilende Birkensporling) und als Potenzverstärker (Hirschtrüffel, Stinkmorchel).
In seiner Jugend widmete sich Vater eine kurze Zeit lang dem Pilz als Droge, und er war zweifellos, auch wenn er später nie damit angab, ein Pionier auf dem Gebiet. Lange vor der Hippiekultur und lange vor Carlos Castañeda lag Vater auf einer Wiese, high wie sonstwas, und studierte die halluzinogenen Effekte des Halsband-Schwindlings. Vater, der von seiner Konstitution her durch und durch gesund war, hörte bald wieder mit diesen Experimenten auf, weil die Nachwirkungen ihn schlapp und unkonzentriert machten. Aber er hat zugegeben, daß er in diesen psychedelischen Zuständen die wichtigsten und profundesten Kenntnisse über Pilze erworben hat, Kenntnisse, die zu jener Zeit in der Wissenschaft noch nicht geläufig waren und die später bekräftigt wurden. (Ich wollte natürlich immer wissen, was das für Kenntnisse waren und wie sie Vater vermittelt wurden. Ich stelle mir vor, daß der Pilz zu ihm sprach, er für einen Moment mit ihm verschmolz und in sein unergründliches Geheimnis eindrang, aber in diesem Punkt war er sehr verschwiegen.)
Niemand kann über das Thema Pilze sprechen, ohne die giftigen Eigenschaften bestimmter Arten zu erwähnen. Es ist für jeden Pilzsammler, der seine Ernte unbeschadet genießen will, äußerst wichtig, diese Arten zu kennen und zu meiden. Man kann sie auch auf die gegenteilige Art und Weise verwenden, und da sind wir bei den Eigenarten des Pilzes, die meinen Vater zu jener Zeit am meisten faszinierten, mehr als seine Eigenschaft als Delikatesse, Medikament, Aphrodisiakum oder Droge (ich muß es sagen, auch wenn ich es lieber verschweigen würde): der Pilz als Waffe.
Für ein armes Gossenkind ist der Pilz die vielleicht effektivste Waffe, die es gibt. Man braucht keine Lizenz, kein Geld, keine physischen Kräfte. Mit grundlegenden mykologischen Kenntnissen, etwas List und jugendlicher Dreistigkeit kann ein Kind einen erwachsenen Mann umbringen, ohne entlarvt zu werden.
Vater tat
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