Pilzsaison: Tannenbergs erster Fall
durch ein zeterndes Passantenspalier.
Den erzürnten Menschen konnte er wohl schlecht die erschütternde Wahrheit mitteilen und ihnen sagen, dass die Polizei auf der Jagd nach einem gemeingefährlichen Serienmörder auf einen unbetankten Motorroller angewiesen war. Also legte er sich schnell eine fantastische Lügengeschichte zurecht, die ihn als armen, vom Liebhaber seiner Frau gehörnten Ehemann darstellte. Auf dem Weg zu seinem Haus musste er diese spontan erfundene Herz-Schmerz-Story insgesamt bestimmt fünf Mal erzählen.
Als er total erschöpft wieder in der Beethovenstraße ankam, wurde er vor seinem Elternhaus von Marieke und seinem Vater mit Spannung erwartet.
»Und hast du ihn gekriegt?«, fragte der Senior.
»Nein, weil in diesem Scheißroller kein Benzin mehr war!«
»Ist doch nicht meine Schuld, wenn mir meine Eltern nicht genügend Geld zum Tanken geben«, entgegnete Marieke sauer.
»Ich hätte ihn fast gehabt – und dann bleibt dieser blöde Roller stehen!«
»Aber Herr Hauptkommissar, nicht mit der armen Marieke schimpfen. Die kann doch wirklich nichts dafür. Ist ja alles auch nicht so schlimm, schließlich hab ich mir seine Autonummer aufgeschrieben«, sagte Jacob Tannenberg stolz.
»Die hab ich auch, Vater, aber die ist bestimmt gefälscht! Wenn es der Typ überhaupt war!«
»Aber die Idee mit der Schweinemaske, das war schon’n Ding!«, stellte Jacob Tannenberg beeindruckt fest.
»Das kann man wohl sagen!«, stimmte Tannenberg zu.
»Wolfram, ich hab noch was. Weißt du, was?«
»Was denn, Vater? Ich hab jetzt wirklich keine Zeit für irgendwelche Ratespiele. Ich muss dringend telefonieren.«
»Es ist aber sehr wichtig«, drängte der Senior und zog seinen jüngsten Sohn am T-Shirt. »Der Klemens da vorne hat nämlich heute Morgen einen Teil seiner Einfahrt neu betoniert.«
»Ja, und?«
»Da ist das weiße Auto vorhin drübergefahren.«
»Was? Das ist ja super!«, rief Tannenberg begeistert, küsste seinen Vater auf die Stirn und rannte wie von einer Tarantel gestochen zu besagter Einfahrt, wo tatsächlich ein frischer Reifenabdruck zu erkennen war. Dann wartete er, bis sein Erzeuger bei ihm eintraf. »Spitze, Vater. Du bleibst jetzt hier und bewachst das Beweismittel. Und du rührst dich nicht von der Stelle! Ist das klar? Ich ruf schnell die Spurensicherung an.«
»Lieber Herr Hauptkommissar, das ist klar, klar wie Kloßbrühe. Ich bin schließlich weder schwerhörig noch verkalkt!«
Während Mertel gerade dabei war, dünnflüssigen Gips in den Reifenabdruck zu gießen, erhielt Tannenberg einen Anruf aus der Zentrale, in dem ihm mitgeteilt wurde, dass das Autokennzeichen KL-AR-11 zwar zu einem weißen PKW der Marke VW-Golf mit Spezialaufbau gehörte, allerdings sei dieses Auto laut Zulassungsstelle bereits vor zwei Jahren verschrottet worden.
Tannenberg begleitete den Kriminaltechniker in dessen Labor und verglich gemeinsam mit diesem die gerade sichergestellten Reifenspuren mit denen vom Pfaffenbrunnen.
»Nahezu identische Gipsabdrücke«, sagte Mertel und zeigte auf die beiden weißgrauen Platten vor sich.
»Kein Zweifel?«
»Nein, die sind eindeutig vom selben Reifen, hinten links.«
»Das heißt, mit diesem Auto sind die toten Frauen transportiert worden.«
»Genau das heißt es«, entgegnete der Kriminaltechniker.
»Zieht der Kerl eine Schweinemaske übers Gesicht und stellt sich bei mir vors Haus. Das gibt es einfach nicht! So ein Wahnsinn!«
»Und das an deinem Geburtstag!«, stellte Mertel voller Mitleid fest.
Obwohl Tannenberg immer noch leicht von Alkoholmolekülen benebelt und völlig übermüdet war, fand er auch in dieser Nacht nicht den so dringend benötigten, zusammenhängenden Schlaf. Zuerst wurde er von einem fürchterlichen Albtraum heimgesucht, der ihn mitten in der Nacht schweißgebadet aufwachen ließ. Und dann schreckte ihn um 6 Uhr ein Justizbeamter aus dem Schlaf, der ihm emotionslos eröffnete, dass sich der Exhibitionist in der Nacht in seiner Zelle das Leben genommen hatte.
13
Tannenberg kochte innerlich vor Wut. Sein erster Gedanke war der, sofort zum Oberstaatsanwalt zu fahren und ihm seine Meinung lauthals ins Gesicht zu schreien, ihm auf den Kopf zuzusagen, dass er am Tod des Exhibitionisten schuld war, und zwar nur er alleine!
Aber dann beruhigte er sich wieder ein wenig und entschloss sich spontan, Schauß zu Hause aufzusuchen. Er musste jetzt einfach Dampf ablassen und sich mit irgendjemandem über sein weiteres Vorgehen in
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