Pilzsaison: Tannenbergs erster Fall
Ermittler.
»Erinnern Sie sich daran, was ich bei meinem Vortrag zu diesem Thema erwähnt habe?«
»Zu welchem Thema?«, wollte Tannenberg wissen.
»Natürlich zum Thema ›Persönlichkeitsstruktur eines Serientäters‹. Haben Sie bei meinem Vortrag etwa geschlafen?«, rüffelte die Profilerin. »Ich hatte Ihnen dargelegt, dass der Serienmörder ein Perfektionist ist, der wie ein Künstler ein Projekt verwirklichen will. Passiert nun etwas Unvorhergesehenes, kann es ihn völlig aus dem Konzept bringen. Das wäre zum Beispiel dann der Fall, wenn die Polizei einen Hauptverdächtigen präsentiert, der nach ihrer Meinung der Täter ist, obwohl der Mörder natürlich weiß, dass der Mann unschuldig ist. Das wäre so, als ob ein Künstler ein Bild malt und ein anderer seinen Namen daruntersetzt und es dann anschließend zum Verkauf anbietet.«
»Sie meinen, mit der glaubhaften Präsentation eines Täters in der Öffentlichkeit würden wir ihn provozieren, ihn aus der Reserve locken? Das ist wirklich ein außergewöhnlich interessanter Gesichtspunkt! Vielleicht macht er ja dann endlich einen Fehler!«, erwiderte der Oberstaatsanwalt begeistert.
»Aber Sie können doch nicht den armen Kerl als Köder missbrauchen!«, wiederholte Tannenberg seine massive Kritik.
»Warum denn nicht? Erstens erfährt ja niemand seine Identität, und zweitens heiligt in unserem Fall wohl der Zweck jedes Mittel.«
Als Dr. Hollerbach das Kommissariat verließ, wusste er nicht so recht, worüber er sich mehr freuen sollte: Über den unverhofften zusätzlichen Köder für den Serienmörder oder über die Tatsache, dass man Tannenberg gerade ein bühnenreifes Theaterstück dargeboten hatte, das deutliche Hinweise auf die geplante LKA-Aktion enthielt; Hinweise allerdings, die der SOKO-Leiter nicht zu entschlüsseln vermochte – wie er im Übrigen ja auch nicht erahnen konnte, dass man ihm bei der Trittbrettfahrer-Inszenierung eine Hauptrolle zugedacht hatte.
Tannenberg fühlte sich wie ausgebrannt. Dringend musste er sich zurückziehen und irgendwo seine verbrauchten Akkus wieder aufladen. Er griff zum Telefonhörer, tippte die Nummer seiner Eltern und bat seine Mutter, ihm etwas Gutes zu kochen. Dann verlangte er nach Schauß, der kurze Zeit später bei ihm im Zimmer erschien.
»Michael, ich hab einen Anschlag auf dich vor. Du könntest mir einen Gefallen tun und nachher für mich zur Pressekonferenz gehen.«
»Okay! Aber was sag ich dem Oberstaatsanwalt, wenn er wissen will, warum du nicht erschienen bist?«
»Ganz einfach: Du sagst ihm, ich sei mit dringenden Ermittlungen beschäftigt. Das macht auch einen guten Eindruck bei den Pressefritzen. Wie war die Befragung dieser Waldsherifs? Hat die was gebracht?«
»Eigentlich nicht. Der Mann, den sie da in Wildwestmanier eingefangen haben, scheint nur ein Exhibitionist zu sein, der sich ab und zu mal auf ’ne Waldlichtung stellt und sein Mäntelchen lüpft. Den haben die auch vor den Morden schon manchmal im Wald gesehen. Ich denke, das ist nur ’ne arme Sau!«
»Aber nur im übertragenen Sinne! Das ist nämlich keine Sau, sondern ein Mensch! Den darf man nicht ungestraft so behandeln. Haben die noch nie was von Menschenwürde gehört? Dem armen Mann werde ich eindringlich dazu raten, gegenüber diesen Barbaren Strafanzeige wegen Freiheitsberaubung zu stellen.«
»Du hast vollkommen recht. Das ist ’ne gute Idee!«, stimmte ihm sein Mitarbeiter vorbehaltlos zu.
»Michael, sei so gut und fahr mich jetzt nach Hause. Normal wär ich ja gelaufen, aber ich bin einfach total schlapp.«
»Natürlich mach ich das. Heute sogar besonders gern, schließlich hast du ja Geburtstag.«
»Stimmt, hab ich fast vergessen«, seufzte der Kommissariatsleiter und zog die oberste Schublade seines Schreibtischs auf.
Tannenberg konnte sich nicht daran erinnern, wann er zum letzten Mal seine Dienstwaffe mit nach Hause genommen hatte. Zur Sicherheit bat er seinen jungen Kollegen, einen kritischen Blick auf die Pistole zu werfen und ihre Funktionstüchtigkeit zu überprüfen. Vorsichtig nahm Schauß die Waffe seines Chefs entgegen, hantierte fingerfertig an ihr herum und reichte sie anschließend ohne Einwände zu artikulieren an ihn zurück.
Während der kurzen Autofahrt registrierte Tannenberg deutlich die Verunsicherung, die nach dem von Heiner überbrachten Gedicht von ihm Besitz ergriffen hatte.
Beobachtet mich der Kerl wirklich andauernd?, fragte er sich. Das müsste ich doch gemerkt haben!
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