Pilzsaison: Tannenbergs erster Fall
unserem Namen gibt.«
Der trockene Riesling, den Tannenberg in reichlichem Maße zu den salzigen Dampfnudeln genossen hatte, entfaltete mehr und mehr seine narkotisierende Wirkung und breitete einen wohligen Schleier der Müdigkeit über ihn aus, dem er sich nicht mehr länger entziehen konnte. Er entschuldigte sich bei den Eltern für seine Schläfrigkeit und verabschiedete sich in seine Wohnung.
Er hatte gerade die Schuhe ausgezogen, als er auf seinem Schreibtisch einige DIN-A4-Blätter liegen sah, die er nicht dorthin gelegt hatte; dessen war er sich sicher. Es handelte sich um die Ergebnisse der von ihm morgens bei seinem Vater in Auftrag gegebenen Internetrecherche.
Obwohl Tannenberg todmüde war, regte sich plötzlich ein aggressiver Impuls in seinem Innern. Wütend zerrte er die mit Abbildungen von Speisepilzen und den dazugehörigen Texten bedruckten Blätter von seinem Schreibtisch, knüllte sie zu einem dicken Papierball zusammen und warf diesen mit voller Wucht aus dem geöffneten Fenster.
Dann überschlugen sich die Ereignisse.
Als er wenige Augenblicke nach seiner Kurzschlusshandlung gerade reumütig den Entschluss gefasst hatte, sich umgehend auf die Beethovenstraße zu begeben, um diesen unrühmlichen Beweis seiner mangelhaften psychischen Belastbarkeit wieder einzusammeln, hupte es. Im ersten Moment dachte er sich nichts dabei. Erst als es rhythmisch weiterhupte, begab er sich zum Fenster und schaute hinunter. Auf dem abgegrenzten Parkplatz auf der anderen Straßenseite stand ein weißer Kastenwagen. Der Fahrer kurbelte die Seitenscheibe herunter, richtete einen Fotoapparat auf Tannenberg und drückte mehrmals auf den Auslöser. Dann entfernte er schnell wieder die Kamera, so dass Tannenberg für einen kurzen Moment in das unverdeckte Gesicht blicken konnte – es war eine Maske, eine rosafarbige Schweinsmaske schaute zu ihm hoch. Gleichzeitig streckte der Fahrer ihm seinen angewinkelten Arm entgegen und bewegte ihn so, wie wenn er mit einem Kleinkind schimpfen würde.
Tannenberg war plötzlich hellwach.
Er kombinierte blitzschnell: Wenn ich jetzt sofort runterrenne und ihm nachfahre, ist er wahrscheinlich schon hinter der nächsten Straßenecke verschwunden, ohne dass ich sein Nummernschild erkennen konnte. Außerdem hab ich kein Auto! Meins ist in der Werkstatt, Heiner ist nicht da! Bleibt Mariekes Roller – aber ist der da? Wo ist der Schlüssel? Also abwarten!
In der Zwischenzeit hatte der Fahrer den Motor seines Wagens aufheulen lassen und war mit quietschenden Reifen losgefahren. Tannenberg wartete so lange, bis er das Nummernschild ablesen konnte: KL-AR-11. Dann rannte er die Treppe hinunter, schrie wie ein Amok laufender Geisteskranker mit sich überschlagender Stimme nach Marieke, die zufälligerweise gerade im Hof ihren Roller putzte.
Tannenberg entriss seiner Nichte den Scooter. »Los, starte mir sofort das Scheißding!«
Marieke zögerte, wollte etwas sagen, kam aber nicht zu Wort.
»Los, los, ich brauch das Ding sofort!«
Marieke gehorchte.
»Was muss ich machen?«
»Nur am Griff Gas geben.«
Tannenberg schwang sich auf den Roller und brauste los. Weit und breit war kein weißer Kastenwagen mehr zu sehen. Aber er warf nicht gleich die Flinte ins Korn, sondern fuhr auf den Bürgersteig und überholte die an der roten Ampel wartenden Fahrzeuge. Passanten sprangen schreiend zur Seite. An der Kreuzung bremste er so abrupt, dass er fast gestürzt wäre. Er schaute die Richard-Wagner-Straße hinunter. Da unten war das Auto! Es bog gerade in die Pirmasenserstraße ab. Tannenberg gab wieder Gas, schnitt einem blauen Ford den Weg ab, der deshalb eine Vollbremsung hinlegen musste. Wie ein Rennfahrer legte er sich in die Kurve und sah dann, dass die nächste Ampel gerade auf Rot umsprang.
Und der Kastenwagen stand direkt davor.
Plötzlich stotterte der Rollermotor und versagte seinen Dienst. Tannenberg drückte den elektrischen Starterknopf. Keine Reaktion. Er drückte ihn erneut. Aber nichts tat sich.
Wahrscheinlich ist der Sprit alle, schlussfolgerte Tannenberg.
Er sprang blitzschnell vom Roller, legte ihn auf die Seite und rannte los. Nach wenigen Metern aber sah er, dass die Ampel auf Grün umsprang und sich das weiße Auto provozierend langsam in Bewegung setzte.
Resigniert ließ er Kopf und Arme hängen und trottete zurück zu Mariekes Roller. Als ob er wirklich nicht schon genug gequält worden war! Nun wurde das Heimschieben des Scooters auch noch zum Spießrutenlauf
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