Pilzsaison: Tannenbergs erster Fall
der Sache beraten.
Er meldete sich in knappen Worten telefonisch bei seinem jungen Mitarbeiter an und machte sich sogleich zu Fuß auf den Weg in die Donnersbergstraße, wo Schauß gemeinsam mit seiner Frau ein kleines Reihenhäuschen bewohnte.
Der forsche Spaziergang durch die gerade erwachende Stadt tat ihm sichtlich gut. Trotz des ganzen Stresses huschte sogar ein leichter Anflug von Heiterkeit über seine geschundene Seele, als er die Bismarckstraße in Richtung Messeplatz entlangwanderte. Da war doch tatsächlich irgendjemand in der Stadtverwaltung vor einem Jahr auf die segensreiche Idee gekommen, in dieser ziemlich befahrenen Innenstadtstraße von einem auf den anderen Tag die bewährten weißgelben Vorfahrtsschilder abmontieren zu lassen und sie durch eine schilderlose Rechts-vor-Links-Regelung zu ersetzen. Mit dem Ergebnis, dass die Unfallrate nach dieser völlig unvorbereiteten radikalen Veränderungsmaßnahme enorm in die Höhe schnellte.
Jedes Mal, wenn er sich von irgendwoher diesem Stadtbereich näherte, nötigte er Schauß dazu, durch die Bismarckstraße zu fahren. Manchmal veranlasste er ihn sogar am Stiftsplatz zur Umkehr, zu sehr amüsierte er sich über die grotesken Situationen, die sich hier tagtäglich ereigneten: Wenn zum Beispiel der eine Autofahrer, ohne es zu merken, dem anderen die Vorfahrt nahm. Oder wenn ein völlig verunsicherter Verkehrsteilnehmer nicht bereit war, sein neues Vorfahrtsrecht in Anspruch zu nehmen, sondern zögerlich wartete und wartete, um schlussendlich dann doch noch loszufahren, und zwar genau in dem Moment, in dem der andere eben auch losfuhr.
Leider gab es anscheinend einige Menschen, die sich über diesen schier unglaublichen Bürokraten-Irrsinn nicht so köstlich zu amüsieren vermochten wie Tannenberg, sondern die ihr Bürgerrecht auf Beschwerde an so genannter höchster Stelle artikulierten. Mit dem schier unglaublichen Ergebnis, dass nach einem halben Jahr Bismarckstraßenchaos der ursprüngliche Zustand wieder hergestellt wurde. Natürlich mit fatalen Konsequenzen, die dazu führten, dass wochenlang Verkehrspolizisten an mehreren neuralgischen Kreuzungspunkten eingesetzt werden mussten.
Sie ist wirklich eine Augenweide, dachte Tannenberg, als Sabrina Schauß ihm die mit blauer Ölfarbe gestrichene Haustür öffnete.
»Hallo, Wolf! Schön dich zu sehen. Herzlichen Glückwunsch noch nachträglich zu deinem Geburtstag! Komm, geh schon mal vor auf die Veranda, jetzt wird erstmal gefrühstückt!«, sagte die bildhübsche junge Frau mit strahlendem Lächeln und geleitete Tannenberg durch die geschmackvoll eingerichtete Wohnung hinaus auf die Terrasse.
»Guten Morgen, Wolf. Bevor du was zu essen kriegst, sagst du mir bitte zuerst mal, was überhaupt los ist; denn so gut kenn ich dich inzwischen: Ohne einen triftigen Grund tauchst du nicht frühmorgens hier draußen bei mir auf, und dann auch noch zu Fuß!«, begrüßte Kommissar Schauß seinen Vorgesetzten und bot ihm einen mit einer dicken, bunten Auflage gepolsterten Gartenstuhl an.
Aber Tannenberg blieb zunächst stehen und sagte, ohne auf die Begrüßungsfloskeln einzugehen: »Der Mann, den die Forstleute gestern zu uns reingeschleppt haben, hat sich heute Nacht in seiner Arrestzelle das Leben genommen!«
»Umgebracht? Der Exhibitionist? Ach du Scheiße! Das gibt’s doch gar nicht!«, entgegnete sein junger Mitarbeiter geschockt.
»Doch, leider! Wie hat unser lieber Herr Oberstaatsanwalt, dieser verfluchte Mistkerl, gestern doch so schön zynisch gesagt: In unserem Fall heiligt der Zweck wohl jedes Mittel!«
»Das hat der wirklich so gesagt?«
»Klar, Sabrina, genau so!«, antwortete Tannenberg erregt. »Aber dem geige ich nachher die Meinung, darauf könnt ihr euch verlassen! Der ist dann mindestens einen Meter kleiner, wenn ich mit ihm fertig bin!«
Für einige Sekunden herrschte sprachloses Entsetzen.
»Aber Wolf, überleg mal, glaubst du nicht, dass der Hollerbach genau darauf wartet?«, fragte Schauß nachdenklich in die Stille hinein.
»Worauf?«
»Darauf, dass du jetzt ausflippst, ihm gegenüber ausfällig wirst, ihm alle möglichen Schimpfwörter an den Kopf wirfst. Dann hat er nämlich endlich das erreicht, was er schon die ganze Zeit über erreichen wollte: Dann kann er dem Polizeipräsidenten beweisen, dass du eine totale Fehlbesetzung warst, und dass du der Leitung des K 1 überhaupt nicht gewachsen bist. Obendrein kann er dir auch noch ein Disziplinarverfahren an den Hals hängen
Weitere Kostenlose Bücher