Pilzsaison: Tannenbergs erster Fall
pietätloses Handeln auf der einen und dieser unbändigen Neugier auf der anderen Seite anzusiedeln war. Natürlich konnte er zu seiner Rechtfertigung immer die legendären Sachzwänge geltend machen, schließlich war dieses rücksichtslose Eindringen in die Intimsphäre eines ihm völlig unbekannten Menschen für die Ermittlungen zwingend erforderlich. Für ihn war es aber weit mehr als kriminalistische Routinearbeit. Es war ein Spiel, ein Puzzlespiel, das darin bestand, eine Vielzahl von Einzelinformationen zu einem Bild zusammenzufügen, zu einem detailgetreuen Abbild der Persönlichkeit eines fremden Menschen.
»Fürchterlich stickige Luft, erdrückende Schwüle«, sprach Tannenberg in sein Diktiergerät. »Komm, Michael, öffne mal die Fenster. Diese abgestandene, tropische Luft ertrag ich nicht. Aber schau vorher nach, ob es irgendwelche Hinweise auf gewaltsames Eindringen gibt, sonst dreht uns die Spurensicherung nachher den Hals rum.«
»Klar, mach ich. Diese Luft ist wirklich unerträglich!«, stimmte Schauß zu und begab sich umgehend zu den Flügeltüren im Wohnzimmer.
Tannenberg blieb zunächst noch im Flur. Seine Augen tasteten wie ein Scanner zuerst den Fußboden, dann die Wände ab. Gleichzeitig sprach er alle möglichen Details auf Band. Danach schlenderte er zunächst gemächlich durch das Schlafzimmer, dann stattete er Bad und Küche einen kurzen Besuch ab und schließlich ging er ins Wohnzimmer, wo er für längere Zeit verweilte.
Kommissar Schauß schlich während dieser Zeit andächtig schweigend wie ein Mitglied einer Dom-Besuchergruppe durch die geschmackvoll eingerichtete Single-Wohnung und wartete geduldig, bis Tannenberg seine letzten Eindrücke dem wehrlosen Diktaphon mitgeteilt hatte.
»Michael, ich bin fertig. Hast du auch den Eindruck, dass Frau Kannegießer ein ziemlich aktiver Mensch gewesen sein muss?«, fragte Tannenberg seinen Mitarbeiter.
»Denke schon. Auf alle Fälle war sie ganz schön sportlich«, antwortete Schauß und nahm einen größeren Silberpokal aus der Vitrine, den das Opfer anscheinend bei einer Tennis-Vereinsmeisterschaft gewonnen hatte.
»Komm, stell das Ding wieder hin. Wir gehen jetzt wohl besser. Mertel und sein Team sind bestimmt bald da. Wenn man vom Teufel spricht …«, sagte Tannenberg als es läutete und öffnete den Kriminaltechnikern die Tür.
Diese stimmten sofort wieder ihr übliches Klagelied hinsichtlich vorsätzlicher Spurenvernichtung usw. an. Erst als Mertel dem Leiter der Mordkommission mitteilte, dass Geiger von der Kfz-Zulassungsstelle erfahren habe, dass Frau Kannegießer einen blauen Golf mit dem Kennzeichen KL-EV-16 besitze, hörte er wieder aufmerksam zu.
»Sag mal, Michael, war die Wohnungstür eigentlich abgeschlossen oder war sie nur ins Schloss gezogen?« fragte Tannenberg, während er mit seinem Kollegen langsam die Treppen hinunterging.
»Also, ich hab den Schlüssel nur reingesteckt und kurz nach rechts gedreht. Sie war also nicht abgeschlossen!«
»Ja, so hab ich das auch in Erinnerung. Komisch!«
»Warum? Vielleicht ist die Frau ja nur kurz aus dem Haus … Zigaretten holen, oder was weiß ich!«
»Ja, vielleicht. Wo ist eigentlich die Katze abgeblieben?«, fragte Tannenberg.
»Also ich habe keine Katze gesehen. Na ja, die Spurensicherung wird sie sicher finden. Die hat sich bestimmt aus Angst vor dir irgendwo versteckt.«
»Klar, was denn sonst, alter Scherzkeks!«, bemerkte Tannenberg säuerlich.
Die beiden Ermittler hatten Elvira Kannegießers blauen Golf schnell entdeckt. Der Wagen stand nur wenige Meter von den Wohngebäuden entfernt auf der anderen Seite der Kurt-Schumacher-Straße. Allerdings nicht am Fahrbahnrand, sondern auf einem zur Tennishalle gehörenden kleinen, ungepflasterten Parkplatz, direkt hinter Glas- und Altpapiercontainern. Als Tannenberg das äußerlich unversehrte, verschlossene Auto unter der mächtigen Trauerweide erspähte und die aus dichten Büschen und Sträuchern bestehenden natürlichen Sichtschutzmauern zur Straße und zur Tennishalle hin registrierte, blickte er zu seinem Kollegen, der genau das aussprach, was Tannenberg gerade dachte.
»Es gibt wohl kaum einen geeigneteren Ort für eine Entführung.«
3
Da Wolfram Tannenberg im Laufe der Jahre eine ausgeprägte Aversion gegen jegliche Form von Kantinenessen entwickelt hatte, versuchte er, so oft wie nur irgend möglich zumindest die Mittagsmahlzeiten im Kreise seiner Familie einzunehmen.
Als ihn Schauß direkt vor seinem
Weitere Kostenlose Bücher