Pilzsaison: Tannenbergs erster Fall
die Leiche alleine gefunden hat.«
»Wieso?«
»Na ja, weil er eben immer mit dem Willy, dem Willy Stammer, zusammen ist. Die sind ein Herz und eine Seele. Ich glaube, die waren sogar schon zusammen in der Schule. Die wohnen nebeneinander und gehen auch immer gemeinsam in die Stadt. Und …«
»Und?«
»Na ja, die gehen halt auch immer gemeinsam spazieren. Also, in den Wald spazieren. Und einer am Tchibo-Tisch hat eben gesagt, dass die jeden Morgen gemeinsam in den Wald gehen. Und ein anderer hat gemeint, dass die auch immer gemeinsam in die Pilze gehen.«
»Interessant, Vater, wirklich interessant«, sagte Tannenberg, allerdings eher, um seinen Vater, der anscheinend der festen Überzeugung war, seinem Sohn tatsächlich brandheiße Informationen zur Verfügung zu stellen, nicht zu frustrieren. Der berufserfahrene Kriminalist vermochte sich jedoch kaum mit dem Gedanken anzufreunden, dass ein alter Rentner als brutaler Frauenmörder in Frage kommen könnte. »Danke, Vater, der Herr Metzger ist heute Nachmittag zum Protokoll bei uns und da werden wir mal nachfragen. Wie heißt der andere nochmal?«
»Willy, Willy Stammer. Aber eigentlich heißt er nur, ›der flotte Willy‹.«
»Wieso denn das?«, wollte Tannenberg wissen.
»Ja, weil der Willy schon immer ein Speckjäger war …«
»Ein was?«
»Ein Speckjäger. Eben ein richtiger Weiberheld. Der ist jedem Rock hinterhergerannt.«
»Das war wirklich ein ganz schlimmer. Vor dem war keine Frau sicher …, wirklich keine Frau!«, ergänzte Mutter Tannenberg vieldeutig.
Der flotte Willy – ein Speckjäger! Ein Rentner als Ritualmörder? Gehörte dann vielleicht sogar sein eigener Vater zum engeren Kreis der Verdächtigen? Schließlich ging der auch ab und an ›in die Pilze‹, wie er immer sagte.
Tannenberg schmunzelte bei diesem Gedanken.
Vater und seine Spielleidenschaft. Das war ein Kapitel für sich. Was hatte der schon alles ausprobiert: Toto, Lotto, Oddset, Pferdewetten, Bingo. Und dann diese Manie mit den Preisausschreiben: Alles, was er irgendwo auftreiben konnte, wurde von ihm siebenmal ausgefüllt und musste dann anschließend von jedem Familienmitglied eigenhändig unterschrieben werden.
Die Familie: Auf der einen Seite bedeutete das enge Zusammenleben der verschiedenen Generationen unter einem gemeinsamen Dach für jeden Einzelnen ein erhöhtes Maß an gegenseitiger Kontrolle, Zwang zur Rücksichtnahme, Verpflichtungen usw. Auf der anderen Seite war eine solche Großfamilie aber auch ein wertvolles soziales und emotionales Sicherheitsnetz.
Wer weiß, was mit mir nach Leas Tod geschehen wäre, wenn mich meine Familie in diesen schweren Zeiten nicht gestützt hätte? Vielleicht wäre ich ganz unter die Räder gekommen, dachte Tannenberg, als er die Schumannstraße überquerte und damit das Musikerviertel der Stadt verließ.
Sein Fußweg zur Kriminalinspektion am Pfaffplatz führte ihn an diesem frühen Nachmittag auch an der Marienkirche vorbei. Es war das erste Mal seit vielen Jahren, dass er wieder den direkten Weg zu seiner Dienststelle einschlug, sonst hatte er immer den Umweg am Hallenbad vorbei genommen.
Diese einschneidende Veränderung wurde ihm aber erst bewusst, als er direkt vor dem prächtigen Eingangsportal der Kirche stand. Sofort sah er das Foto, das zu Hause neben seinem Doppelbett hing: Lea in einem wunderschönen Brautkleid mit langer Schleppe, und er in einem edlen dunklen Hochzeitsanzug. Beide kommen gerade aus der Kirche und schreiten feierlich die breite Marmortreppe hinab. Mitten durch ein Spalier fröhlicher Menschen, vor ihnen die Blumen streuenden Kinder seines Bruders.
Plötzlich quietschte und hupte es. Tannenberg zuckte zusammen und stellte schockiert fest, dass seine Tagträumereien dazu geführt hatten, dass er ohne es zu merken einen Schritt rückwärts auf das Kopfsteinpflaster der Kindergartenstraße gemacht hatte.
»Chef, irgendwann werden Sie noch mal angefahren«, rief Geiger aus seinem getunten Opel-Astra, der direkt neben Tannenberg zum Stillstand kam.
Ausgerechnet der Geiger, schoss es Tannenberg in seinen Kopf. »Mensch, Kerl, willst du mich denn umbringen? Mich hätte eben fast der Schlag getroffen. Was willst du eigentlich, ich bin doch schon längst wieder auf dem Bürgersteig.«
Als Tannenberg wenig später die Büroräume der Mordkommission 1 betrat, wurde er von einer gut gelaunten Sekretärin und einem kecken Mitarbeiter empfangen.
»Das war ja haarscharf, Chef. Da müssten Sie mir
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