Pilzsaison: Tannenbergs erster Fall
ich doch nicht! Oder hast du das etwa geglaubt?«
»Nein, natürlich nicht, mein alter Freund. Durch dieses Untersuchungsergebnis können wir ja dann die hypothetische Existenz eines Nachahmungstäters, der für den zweiten Mord verantwortlich sein könnte, endgültig ad acta legen. Na, das ist ja schon mal was!«, freute sich Tannenberg.
»Aber so viel hast du dadurch natürlich auch mal wieder nicht gewonnen, schließlich weißt du nicht, wessen DNA das ist. Oder trägst du dich etwa ernsthaft mit dem Gedanken, alle männlichen Einwohner von Kaiserslautern zur Abgabe einer Speichelprobe zu zwingen?«, fragte der Pathologe.
»Warum eigentlich nicht?«
»Wolfram, jetzt drehst du aber durch!«, entgegnete der Rechtsmediziner. »Siehst du, könnten wir jetzt auf eine zentrale Gendatei zurückgreifen, in die nach der Geburt eines jeden Bundesbürgers dessen spezifische genetische Merkmale eingegeben wurden, dann hätten wir jetzt ruck, zuck den Täter.«
»Willst du etwa allen Ernstes einem totalen Überwachungsstaat das Wort reden?«, mischte sich Heiner polemisch ein. »Willst du einen Spitzelstaat, wie ihn Orwell in ›1984‹ beschrieben hat?«
»Willst du, dass hier ein Serienmörder unerkannt rumläuft und deine Frau und deine Tochter dauerhaft bedroht, ihnen einen großen Teil ihrer Lebensqualität raubt?«, gab Dr. Schönthaler scharf zurück.
»Ruhe, hört auf zu streiten! Ich will von diesem verfluchten Fall jetzt nichts mehr hören! Heiner, komm, gib endlich Karten«, sprach Tannenberg ein unmissverständliches Machtwort, das die Skatbrüder widerspruchslos akzeptierten.
Erna Faber lebte seit der frühesten Kindheit in ihrem etwas zurückgesetzten zweigeschossigen Elternhaus in der Glockenstraße. Im Keller dieses Sandsteingebäudes hatte sie die Bombennächte des Zweiten Weltkriegs unbeschadet überstanden. Hier in dieser Straße hatte sie als Trümmerfrau beim Wiederaufbau geholfen. Hier in diesem Haus hatte sie ihre drei Töchter zur Welt gebracht. Hier in diesen tristen Räumen hatte sie ihren Ehemann bis zu seinem Tod gepflegt. – Und hier war sie alleine zurückgeblieben, als ihre Töchter sich im Laufe der Zeit über das ganze Land verstreuten und ihr nacheinander mitteilten, dass sie leider der alten Mutter in ihrem neuen Zuhause keinen Wohnraum zur Verfügung stellen konnten. Deshalb hatte sich Erna Faber damit abgefunden, irgendwann einmal als Pflegefall in einem Altersheim zu landen.
»Aber bis dahin vergeht hoffentlich noch viel Zeit. Schließlich muss sich Frauchen ja um Susi Schatz kümmern.«
Die fette Dackelhündin auf ihrem Schoß gab keine Antwort, sondern verschlang laut schmatzend das Stückchen dick mit grauer Leberwurst bestrichene Roggenbrot, das ihr die alte Dame gerade als Betthupferl in das sabbernde Hundemaul gesteckt hatte.
Schwesterlich geteilt wanderte das nächste schmale Schnittchen in Erna Fabers Mund, das übernächste wieder in Susis gieriges Dackelmaul; und so ging es weiter, bis von der mittelgroßen Brotscheibe, außer ein paar Krumen, die Susi noch vom Teller schlecken durfte, nichts mehr übrig war. Als Dank für dieses lukullische Mahl zog Susi Schatz ihre lange Hundezunge mehrmals über den mit Leberwurstresten umsäumten Mund der alten Frau.
»Und jetzt gehen wir vorm Schlafengehen noch mal Gassi«, sagte Erna Faber leise, drückte einen liebevollen Kuss auf die ihr entgegengestreckte kalte Hundeschnauze und setzte ihren Sonnenschein vorsichtig wie eine original Meißner-Porzellanfigur auf den mit fleckigbraunem Strukturlaminat ausgelegten Küchenboden.
Mit ihrem kleinen Hund im Schlepptau, der breitbeinig und träge wie ein müdes Hängebauchschwein gemächlich hinter ihr hertrottete, passierte die alte Frau auf ihrem allabendlichen Rundgang durch die Straßen des Musikerviertels zuerst den Seniorentreff in der Mozartstraße und dann die Psychiatrische Klinik in der Parkstraße. Danach bogen die beiden skurrilen Gestalten wie immer in die Beethovenstraße ein, die aufgrund der vielen nur schummrig beleuchteten Hofeinfahrten genau das richtige Ambiente bot, das Susi Schatz benötigte, um sich unbeobachtet und ungestört von den auslassbegehrenden Verdauungsprodukten zu befreien, die sich tief in ihrem Körperinnern angestaut hatten.
Plötzlich hörten die drei Skat spielenden Männer von der Straße her einen markdurchdringenden spitzen Schrei, dem im direkten zeitlichen Anschluss hysterisches, asthmatisches Hundegekläff folgte. Alle dachten
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