Pilzsaison: Tannenbergs erster Fall
er ferngesehen, gepinkelt, gegessen, aus dem Fenster geschaut hat. Einfach alles! Vor allem will ich wissen, wer was beobachtet hat, und wenn’s die scheinbar unbedeutendste Kleinigkeit ist. Achtet mir besonders bei den Befragungen auf Fahrzeuge, die die Leute möglicherweise gesehen haben – und auf fremde Passanten, die eine Tüte oder ähnliches in der Hand herumgetragen haben. Schließlich muss der Kerl, der mir die Katze vor die Tür gelegt hat, sie ja irgendwie dorthin transportiert haben. Ihr schreibt mir das alles feinsäuberlich chronologisch zusammen. Noch Fragen?«
»Nein. Nur einen Wunsch«, seufzte Wrenger,
»Wieso einen Wunsch?«, fragte Tannenberg verdutzt.
»Hoffentlich gewinnen wir nicht das WM-Endspiel, sonst geht’s in der Stadt überall drunter und drüber.«
»Das stimmt. Da hab ich noch gar nicht dran gedacht! Dann hätten wir wirklich überall das absolute Chaos. Leute, wir treffen uns hier auf alle Fälle wieder um 18 Uhr. Ich hoffe, ihr habt bis dorthin was Neues für mich«, beendete der SOKO-Leiter die Besprechung und ließ sich von Schauß zum Bremerhof bringen.
Tannenberg streifte seinen Rucksack über, reckte als Abschiedsgruß den linken Arm in die Höhe und marschierte wie ein begeisterter Volkswanderer direkt los.
»Hast du auch dein Handy dabei?«, schrie Schauß dem Davoneilenden hinterher, der sich aber nicht mehr nach ihm umdrehte oder gar stehenblieb, sondern sich bemühte, so schnell wie möglich dem Beobachtungsbereich seines Mitarbeiters zu entfliehen.
Als er sicher war, dass Schauß ihn nicht mehr sehen konnte, zog er sein Handy aus der Tasche und tippte die Nummer seines besorgten jungen Kollegen.
»Sag mal, glaubst du wirklich, ich bin schon so senil, dass du mich wie ein kleines Kind behandeln musst, das zum ersten Mal an einem Schulausflug teilnimmt? Du bist ja schlimmer als meine Mutter! Gewöhn dir das mal schleunigst wieder ab!«, sagte Tannenberg und drückte sofort nach seinem letzten Wort die Unterbrechungstaste.
Der nach einer lang gezogenen Biegung sich kerzengerade ausrichtende Fahrweg erinnerte Tannenberg spontan an einen dieser roten Läufer, die bei Staatsempfängen ausgerollt werden, nur dass in diesen zartroten Sandteppich frische aschgraue Schotterflächen eingewebt waren. Dicke Buchenstämme lagen wie überdimensionale Zahnstocher aufeinandergestapelt am rechten Rand, aufgequollenes Buschwerk säumte den staubigen Weg.
Nachdem der Waldweg das enge Tal, das auf beiden Seiten von hochstämmigen Kiefern begrenzt wurde, verlassen hatte und sich in lang gezogenen Windungen den Pfaffenberg emporschlang, vernahm Tannenberg schon von weitem lautes Stimmengewirr, das auf eine vielköpfige Besuchergruppe hindeutete. Kurz entschlossen änderte er seine Pläne und begab sich auf einen schmalen Pfad, der zum kleinen Humberg führte. An diesen Weg erinnerte er sich noch sehr gut, denn als Kind hatte sein Vater ihn und seinen älteren Bruder jeden Winter mehrmals dort entlang gequält. Es war immer eine unglaublich anstrengende Prozedur gewesen, die aber nach einem ca. 30-minütigen Fußmarsch durch den immer höher sich auftürmenden Schnee mit der besten und längsten Schlittenabfahrt weit und breit belohnt wurde.
Als Tannenberg die ehemalige Rodelbahn, die inzwischen von umgeworfenen Stämmen und dichten Sträuchern bedeckt war, passierte, musste er unweigerlich daran denken, wie er einmal vom Schlitten gerutscht, mit dem Kopf auf einen Stein gefallen und kurzzeitig bewusstlos gewesen war. Da er aus Nase und Ohr blutete, befürchtete sein Vater anscheinend das Schlimmste, knotete sofort die beiden Rodler aneinander und beauftragte Heiner damit, ihn festzuhalten. Und dann legte er wie ein Berserker los. Dieses Bild hatte er nie vergessen: Wie er mit dem Rücken an seinen Bruder gelehnt den panischen Vater beobachtete, der wie ein schnaubender Brauereigaul die Nüstern blähte und ohne Unterlass dampfende Atemstöße in die bitterkalte Winterluft hinauspresste.
Was treibt solch einen perversen Menschen nur um, dachte Tannenberg, als sich beim Abstieg vom kleinen Humberg sein rechtes Knie schmerzend bemerkbar machte. Warum macht der nur sowas? Ist es überhaupt möglich, sich in solche zutiefst menschenverachtenden, kranken Denkstrukturen einzuklinken? Aber da hat die Profilerin wohl recht: Nur wenn man das schafft, hat man eine Chance, ihn zu entdecken und unschädlich zu machen. Verhält sich so ein perverser Mensch im Alltagsleben wirklich ganz normal?
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