Pilzsaison: Tannenbergs erster Fall
in der Nachbarschaft nach ihm erkundigt: Der lebt mit seiner allein erziehenden Mutter in einer kleinen Wohnung, und stell dir vor: Die leben von Sozialhilfe! Sozialstaatsschmarotzer!«
»Jetzt versteh ich gar nichts mehr. Wie oft hast du und deine Frau mir denn in der Vergangenheit einen Vortrag über die Chancenungleichheit in unserer Gesellschaft gehalten? Du hast doch immer, übrigens völlig zurecht, betont, dass gerade Kinder aus solchen sozialen Verhältnissen mehr gefördert werden müssten, damit sie bessere Bildungs- und Berufschancen bekämen. Und jetzt ziehst du so über diese armen Leute her.«
»Mach ich ja gar nicht. Aber …«
»Aber man sieht die Sache eben ein klein bisschen anders, wenn es um die eigene Tochter geht!«, ergänzte Dr. Schönthaler in die Redepause hinein.
Tannenbergs Bruder schien den demaskierenden Einwurf des Gerichtsmediziners gar nicht registriert zu haben und war anscheinend so sehr von der Aversion gegenüber diesem Schüler beherrscht, dass er bereit war, seine sämtlichen, bis zu diesem Zeitpunkt oft plakativ zu Markte getragenen sozialistischen Überzeugungen mit einem großen Schwung über Bord zu werfen: »Das ist doch alles Utopie! Chancengleichheit, dass ich nicht lache! Der Kerl hat doch alle Chancen gehabt, und keine einzige davon wahrgenommen! Der ist doch schon als Faulenzer geboren worden. Das steckt dem in den Genen! Aus dem wird doch nie was! Der kommt aus der Gosse und wird auch darin enden! Komm, Wolf, schau mal in deinem Polizeicomputer nach, ob ihr was über diesen Kerl habt. Der hat bestimmt schon einige Sachen auf dem Kerbholz!«
»Was? Ich glaube, du spinnst!« Tannenberg blickte seinem Bruder entgeistert in dessen flackernde Augen. »Wie du redest. Und vor allem, was du für einen Blödsinn redest. Heiner, reiß dich jetzt aber mal zusammen! Dieser junge Mann ist ein Schüler und kein Krimineller! Außerdem kann er so schlimm, wie du anscheinend meinst, gar nicht sein, sonst hätte sich Marieke bestimmt nicht in ihn verknallt. Ich denke, du solltest deiner Tochter einfach etwas mehr Menschenkenntnis zutrauen«, schimpfte Tannenberg aufgebracht.
»Und ich denke, das war ein gutes Schlusswort, schließlich warten die 32 Blätter des Teufels noch auf uns«, versuchte der Pathologe die angespannte Stimmung durch einen Themenwechsel wieder zu normalisieren. »Komm, Heiner, räum mal die Teller mit den Spagetti- und Pestoresten auf die Spüle!«
»Jawohl, Chef, wird sofort gemacht!«, gab der Angesprochene mit zornesrotem Kopf zurück. »Aber dann wischst du den Tisch ab!«
»Während die beiden Herren mit ihrem Küchendienst beschäftigt sind, braue ich uns noch einen schönen starken Friedens-Espresso, und dazu gibt’s dann die Zabaione-Pralinen«, gab der Leiter der Kaiserslauterer Mordkommission bekannt.
»Super Idee, Wolfram, dann kröne ich diesen Abgang noch mit einer Runde von mir spendierter Friedens-Havannas, die ich, während du die Espressos zubereitest, schnell oben im Bahnhofskiosk kaufen werde«, sagte Dr. Schönthaler und verließ die beiden Brüder.
»So, der Espresso ist fertig, aber zuerst gibt’s noch einen Verdauungsgrappa«, sagte Tannenberg und befüllte die hohen, dünnwandigen Spezialgläser. »Salute!«
»Salute! Eigentlich gibt’s ja auch was zu feiern«, sagte der Pathologe nebulös.
»Und was, wenn ich fragen darf?«
»Wolf, du darfst. Der Grund meiner leichten Verspätung vorhin liegt nämlich darin begründet, dass ich im Labor erst noch etwas fertigmachen musste.«
»Und was musstest du noch fertigmachen?«, wollte Tannenberg ungeduldig wissen. »Mensch, Rainer, lass dir nicht die Würmer einzeln aus der Nase ziehen. Wir wollen ja schließlich auch noch irgendwann Karten spielen.«
»Also, ums auf den Punkt zu bringen«, gab sich der Gerichtsmediziner geschlagen: »Es steht definitiv fest, dass beide Morde von ein und demselben Täter durchgeführt wurden. Die Genanalysen zeigen eindeutige Übereinstimmungen.«
»Aber du solltest doch alle Asservate den LKA-Leuten übergeben.«
»Ja, hab ich ja auch. Aber irgendwie muss ich da in der Hektik wohl ein paar Kleinigkeiten übersehen haben«, antwortete Dr. Schönthaler, breit grinsend wie ein Honigkuchenpferd.
»Du alter Gauner!«
»Herr Kollege, dieses Lob aus dem Munde eines begnadeten Kriminalbeamten, man bedankt sich! Aber im Ernst: Glaubst du, ich lass mich von diesen arroganten Wichtigtuern einfach so auf die Schnelle außer Gefecht setzen. Also bitte,
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