Pilzsaison: Tannenbergs erster Fall
Das kann doch gar nicht sein! Irgendwie muss der doch mehr auffallen als andere!
Plötzlich schoss ein Mountainbiker von hinten kommend an Tannenberg vorbei.
Er zuckte zusammen, erschrak fürchterlich.
»Kannst du Idiot dich denn nicht bemerkbar machen! Von Grüßen ganz zu schweigen! Du hättest mich fast umgefahren!«, schrie er dem Mann aufgebracht hinterher, der sich bereits am nächsten Anstieg zu schaffen machte. Die einzige Reaktion, die er mit seinem Wutanfall erzeugt hatte, war ein emporgestreckter Mittelfinger.
Als der Weg wieder breiter und steiler wurde, fühlte sich Tannenberg immer müder und ausgelaugter. Langsam trottete er wie ein alter Lastesel die nächste Anhöhe hinauf. Das Einzige, was er von seiner Umgebung wahrnahm, war das laute Knirschen der Schottersteine unter seinen Schuhsohlen. Die Füße schmerzten, der Rucksack drückte ihm auf den arg strapazierten, inzwischen schweißnassen Rücken.
Wenn die Nacht am dunkelsten, ist der Sonnenaufgang nicht mehr fern, dachte er plötzlich, denn das Schicksal hatte ihm treffsicher zur rechten Zeit genau das geschickt, was er jetzt dringend brauchte: Einen kleinen Unterstand, der sich wie ein Jägeransitz hinter moosbewachsenen Baumstümpfen, Farnen und Himbeerbüschen versteckt hatte.
Als Tannenberg näher herantrat, sah er, dass man einfach den weit überhängenden Felsen als Dach genutzt und an den Seiten mit Sandsteinen Wände hochgezogen hatte. An der senkrechten Felswand stand eine Holzbank und davor ein schmaler Tisch.
Tannenberg öffnete seinen Rucksack, breitete die mitgebrachte kleine weiße Tischdecke aus, stellte zwei bereits angebrochene Antipasti-Gläschen, eine Flasche Barbera d’Alba und ein dickbauchiges Rotweinglas darauf ab. Dann kramte er einen Korkenzieher, eine Salami und ein halbes Chiabattabrot hervor, öffnete mit einem lauten Knall die Flasche, schenkte sich Wein ein, prostete sich selbst zu, nahm einen großen Schluck und fiel wie ein ausgehungerter Wolf über das schutzlose Essen her.
Die entkrampfende Wirkung des Alkohols ließ nicht lange auf sich warten. Tannenberg fühlte, wie sich die enorme Anspannung, die ihn seit dem Fund der Katze beherrschte, allmählich abbaute, sich mit jedem Schluck, der seine durstige Kehle passierte, mehr und mehr auflöste.
Sein entspannter Blick schweifte über die sattgrünen Bergrücken zum strahlendblauen Horizont – und rastete plötzlich ein.
Etwa einen halben Meter vor ihm stand ein prächtiger roter Fingerhut. Ohne über die Giftigkeit der Pflanze auch nur eine Sekunde nachzudenken, beugte er sich über den Holztisch und zupfte eine der bläulichen Blüten ab. Sie sahen ganz genauso aus wie die, die der Mörder um die Köpfe der toten Frauen herumgelegt hatte. Allerdings fiel ihm jetzt etwas auf, das er an den Leichenfundorten nicht wahrgenommen hatte: In der glockenförmigen Blüte der markanten Waldblume bemerkte er unsymmetrisch angeordnete weiße Stellen, die wie kleine Kuhflecken aussahen und die in ihrer Mitte jeweils drei dunkelblaue Punkte aufwiesen. Bedeutete das etwa, dass der Mörder genau drei Frauen umbringen wollte? Tannenberg, du spinnst! Du siehst Gespenster!, rief er sich selbst zur Räson.
Er dankte seiner inneren Stimme für diese wichtige Korrekturmaßnahme, packte seine Sachen zusammen und machte sich wieder auf den Weg.
Mitten in einem von hohen Lärchen verdunkelten schmalen Pfad wurde er plötzlich von einem heimtückischen, depressiven Schub überfallen. Seine trüben, selbstkritischen Gedanken beschäftigten sich erneut mit der Frage, ob er diesem Fall und diesem schier übermächtigen Gegner überhaupt gewachsen war. Stand nicht auch sein störrischer, abweisender Charakter einer schnellen Lösung der Mordserie im Wege? Sollte er sich nicht endlich gegenüber dem Oberstaatsanwalt, der Profilerin und Geiger umgänglicher gebärden?
Aber bereits kurze Zeit später, als der dunkle Waldweg wieder lichter wurde, die mächtigen Sonnenstrahlen wieder mit ihrer Kraft protzten und das kastrierte Blickfeld sich wieder öffnete, hatten sich die rabenschwarzen Gedanken, die sich wie eine alte, modrige Pferdedecke über ihn gelegt hatten, wieder verflüchtigt. Er zelebrierte regelrecht das nun folgende Bad in seiner wiedererstarkenden Selbstzufriedenheit: Es gibt doch auf der Welt schon genügend stromlinienförmige Speichellecker, konturlose Ja-Sager. Da ist der alte Tannenberg mit seinem rustikalen, sperrigen, nonkonformistischen Wesen doch eindeutig eine
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