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Pinguine frieren nicht

Pinguine frieren nicht

Titel: Pinguine frieren nicht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrej Kurkow
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mußte, um weniger Fehler zu begehen und sich vor Gefahren zu schützen. Man hatte die Wahl. Da gab es die Verfassung, die viel versprach, aber wenig hielt. Ihre Paragraphen waren pathetisch und unrealistisch. Das Recht auf kostenlose medizinische Versorgung endete da, wo Krankheit und Alter anfingen.
    Hier dachte Viktor an Pidpalyj und an die Rettungssanitäter, die in die Wohnung des Pinguinologen gekommen waren und ihn nicht ins Krankenhaus bringen wollten. Nein. Das Gesetz der Schnecke versprach nichts außer Strafen, wenn man gegen es verstieß. Aber darin lag auch seine Wahrheit. Seine Wahrheit und seine Wirksamkeit. Das Leben selbst bestätigte die Gerechtigkeit dieses Gesetzes. Und er, Viktor, war jetzt ›gesetzlich‹, er war unter Sergej Pawlowitschs Dach. Das Haus seines Chefs schützte ihn und gab ihm Vertrauen in den morgigen Tag. Und selbst der Ex-Verstorbene Igor Lwowitsch hatte im Auto wortlos die starken Wände des Hauses anerkannt, in dem Viktor jetzt Schnecke war. Da war sie, die Wahrheit des Lebens. Ein Haus – eine Schnecke. Kein Haus – keine Schnecke. Keine Schnecke – keine Probleme… Nein, das stammte schon aus einem anderen Stück, aber auch dieses Stück hatte mit Viktor zu tun. Und deshalb mußte man das Gesetz befolgen, das wirksam war, und nicht das, das geschrieben und zur allgemeinen Lektüre in millionenfacher Auflage herausgegeben wurde.
    Die Heimkinder empfingen die Besucher wie alte Freunde. Die Kinder wollten gleich aus den neuen [458] Schälchen essen und aus den neuen Bechern trinken. Also schleppten alle einmütig Wasser vom Brunnen in die geräumige Küche. Sie spülten Schälchen und Becher aus, und zwanzig Minuten später löffelten alle einmütig Grießbrei mit Butter an den Holztischen im Speisesaal. Selbst Pascha warf den Kindern hin und wieder interessierte Blicke zu, dabei war er ja auch dienstlich hier, und so zog er von Zeit zu Zeit einen kleinen Fotoapparat aus der Tasche und knipste. Nur Mischa langweilte sich, während alle aßen. Grießbrei wollte er nicht, er stand einfach unter dem Fenster und beobachtete Viktor.
    Eine dicke Frau mit Schürze ging mit einem großen Kessel durch die Reihen und verteilte Kompott in die neuen Emailbecher.
    Viktor hob den Winnie-Pu-Becher und betrachtete ihn gedankenverloren.
    Er hörte, wie Sonja, die ihm gegenübersaß, ihrer neuen Freundin erklärte: »Mein Onkel Witja hat genau den gleichen. Aber er gibt ihn mir nicht!«
    »Ich werde ihn dir schenken!« sagte Viktor zu Sonja.
    »Wirklich?« freute sich das Mädchen.
    »Tschetschenisches Ehrenwort«, versuchte Viktor zu scherzen, aber Sonja verstand den Scherz nicht.
    Und darüber war Viktor froh. Es ist ja auch überhaupt kein Scherz, wenn das Leben eines Menschen von einem einzigen Ehrenwort abhängt!
    Nach dem Mittagessen wurde der Fernseher auf ein Schränkchen in einem ziemlich großen, quadratischen Raum gestellt, in dem an der Wand Porträts von Schewtschenko und Präsident Kutschma hingen. Neben den [459] beiden waren die Rahmenspuren eines Porträts zu sehen, das man entfernt hatte. ›Sicher Lenin‹, dachte Viktor.
    Ein älterer Junge stellte eine Zimmerantenne auf den Fernseher und drehte sie lange, bis das Bild gleichmäßig wurde und Konturen und Farbe annahm.
    Sonja war mit den kleineren Heimkindern und Mischa-Pinguin draußen. Jeder vergnügte sich auf seine Weise, entweder im Schnee oder im warmen, gut geheizten Haus.
    Im Fernsehen lief McDonald’s-Reklame, und ein größeres Mädchen im grünen Pulli und weiten Hosen leckte sich die Lippen beim Anblick eines gewaltigen, den Bildschirm füllenden Big Mac.
    »In echt ist er viel kleiner!« sagte Viktor.
    90
    Als es bereits dämmerte, fuhren sie auf ihrer eigenen Reifenspur zurück zur Hauptstraße. An diesem Tag hatte es außer Viktor und Pascha offenbar niemanden in dieses abgelegene Dorf gezogen.
    Als sie auf die Fernstraße bogen, klingelte in Viktors Tasche das Handy.
    »Wie ist es gelaufen?« fragte die Stimme des Chefs.
    »Ausgezeichnet!« berichtete Viktor. »Sie hatten Tränen in den Augen bei den Geschenken!«
    »So muß es auch sein. Nur Bestechung nimmt man mit einem Lächeln oder einer Grimasse, aber Geschenke nur mit Tränen«, scherzte Sergej Pawlowitsch. »Gut, dann hör mal zu! Dein Arbeitstag ist für heute noch nicht zu Ende. [460] Wenn du heimkommst, schreibst du einen Artikel über diese wohltätige Aktion, morgen früh bringst du ihn mir, und wir entscheiden, an welche Zeitung er gehen

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