Pinguine frieren nicht
Fernseher haben wir keinen, der alte ist vor einem Jahr kaputtgegangen. Verzeihen Sie, es ist mir peinlich, wissen Sie, so zu betteln. Wir müßten doch erst einen offiziellen Antrag stellen, beim Bezirkskomitee.«
»Alles nicht nötig!« erklärte Viktor ihr. »Sind Sie morgen früh da?«
»Ja, wo sonst? Ich wohne neben dem Kinderheim, das Holzhaus mit dem grünen Zaun.«
»Dann bis morgen, ich versuche, gegen zwölf da zu sein«, versprach Viktor und verabschiedete sich.
Sergej Pawlowitsch war sofort einverstanden mit dem Kauf von Geschirr und einem Fernseher, und er bat Viktor, sich gut umzusehen, was dort sonst noch fehlen mochte. Viktor fuhr mit Pascha nach Darnitza ins Geschäft ›Kinderwelt‹. Zu seiner Freude fand er dort Emailgeschirr, Schälchen und Becher mit Gestalten aus Zeichentrickfilmen. Er entschied sich für fünfzigmal Winnie-Pu. Lange hielt er einen Becher in der Hand; es war genau der gleiche wie der, den er aus Tschetschenien mitgebracht hatte.
Das Geschirr wurde in zwei große Kartons gepackt. Beim ›Haus des Radios‹ auf dem Lesja-Ukrainka-Boulevard luden sie noch einen dritten Karton mit einem Samsung-Fernseher in den Geländewagen. Dann brachte Pascha Viktor nach Hause.
[455] 89
Als der Geländewagen von der Fernstraße auf den schneebedeckten Feldweg bog, war es Viktor, als fuhren sie über ein einziges Schneefeld. Sie waren an diesem Morgen die ersten, die eine Reifenspur durch den nachts gefallenen Schnee zogen. Auch Sonja, die hinten mit dem jodverzierten Pinguin saß, sah mit großen Augen auf die winterliche Pracht. Als Viktor ihr gesagt hatte, daß er zum Kinderheim fuhr, hatte sie entschlossen erklärt, sie werde mitfahren, und auch darum gebeten, daß sie Mischa mitnahmen. »Mischa und ich kennen doch alle! Wir haben doch zusammen bei McDonald’s gegessen, weißt du noch!«
Viktor hatte nichts dagegen gehabt, und so fuhren sie jetzt gemeinsam, um den schon bekannten Kindern wohltätige Hilfe von Abgeordnetenhand zu bringen. Viktor saß neben Pascha und schaute manchmal nach hinten zu Sonja und Mischa. Er stellte sich vor, wie die Kinder sich gleich über den Pinguin freuen würden. Sonja war doch ein tolles kleines Mädchen! Sie setzte ihren Willen durch und hatte dabei auch noch völlig recht gehabt!
Pascha ertastete den Weg längs der hölzernen Pfosten und der zu beiden Seiten des Feldweges in gerader Linie wachsenden kahlen Bäume. Auf seinem Gesicht lag Anspannung, aber selbst durch die Anspannung hindurch leuchtete manchmal die Begeisterung über die Schönheit der winterlichen Landschaft. Viktor konnte es sehen. Er selbst fühlte sich beinahe wie der Kapitän eines Schiffes; egal, daß es ein Geländewagen war und mit Ausnahme von [456] Mischa und Sonja nichts hier drin wirklich mit ihm zu tun hatte. Aber er war der Urheber einer guten Sache, der Mensch, der sich dieses Gute ausgedacht und einen Adressaten dafür gefunden hatte. Sergej Pawlowitsch dafür nicht dankbar zu sein wäre Sünde. Wieder dachte Viktor voller Dankbarkeit an seinen Chef. Wie paßte das bei Sergej Pawlowitsch nur alles so harmonisch zusammen? Die dunkle Vergangenheit, auf die Igor Lwowitsch gestern angespielt hatte, und der wenn auch ziemlich demonstrative Wunsch, Gutes zu tun? Vielleicht strebte er ja nach Macht, um Gutes zu tun? Das klang irgendwie auch komisch. Viktor schüttelte den Kopf und wunderte sich über seine eigenen Gedanken.
Trotzdem gewann das Bild Sergej Pawlowitschs in seiner Vorstellung bereits Züge eines römischen Helden, eines Verteidigers der Erniedrigten und Beleidigten, eines eifrigen Hüters des Gesetzes… Das Gesetz allerdings war wohl eher sein eigenes, das Gesetz der Schnecke. Aber alle Paragraphen dieses Gesetzes glänzten geradezu von eherner Gerechtigkeit und Pragmatismus. Und tatsächlich war dieses Gesetz direkt aus dem Leben heraus entstanden. Sergej Pawlowitsch oder jemand anderer hatte dieses Gesetz nicht in der Phantasie entworfen, sondern bereits existierende, doch ungeschriebene Regeln notiert, weiterentwickelt und mit Ordnung, Logik und biblisch harten Konsequenzen erfüllt.
Er selbst, Viktor, hatte das Gesetz freudig, leicht und rückhaltlos akzeptiert. Er hatte sich sogar erlaubt, es in Situationen, in die das Leben ihn steckte, weiterzuentwickeln. Nein, er erhob keinen Anspruch auf Autorschaft [457] an dem Gesetz. Das war natürlich Sache der Parlamentarier. Er erkannte nur, daß irgendein Gesetz nötig war und man irgendeinem Gesetz folgen
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