Pinguine frieren nicht
unerwartet frostig.
»Was ist denn da?« Viktor versuchte, einen Blick auf die letzte Seite zu werfen.
Der Chef schob Viktor wortlos das Blatt hin. Der nahm es, hob es hoch und überflog die vertrauten Zeilen. Alles schien normal, bis er auf die allerletzte Zeile, richtiger, die Unterschrift, stieß. Dort stand geschrieben: ›Der engste Freundeskreis‹. Viktor brach kalter Schweiß aus.
»Das war automatisch«, rechtfertigte er sich. »Aus Versehen… Alte Gewohnheit!«
Sergej Pawlowitsch lachte plötzlich.
»Schade«, sagte er. »Und ich dachte, du hast so einen schwarzen Humor! Na gut«, er drückte Viktor einen Kuli in die Hand, »dann streich deinen ›Freundeskreis‹ und setz den Namen des Autors hin! Und danach ab in Druck.«
»Den Namen des Autors?« fragte Viktor nach.
»Nun ja! Wie machen es die Journalisten denn sonst?«
Viktor überlegte. Er wollte nicht mit seinem Namen unterschreiben. Er wollte nicht vor aller Augen treten, damit irgend jemand zufällig seinen Namen sah und sagte: ›Sieh mal an, der lebt ja noch!‹
[467] Vielleicht gab es noch andere Gründe für seine Zurückhaltung, jedenfalls überzeugte Viktor sich innerhalb von zwei Sekunden davon, daß er keinerlei Wunsch verspürte, mit seinem eigenen Namen zu unterschreiben.
»Und wenn ich ein Pseudonym nehme?« fragte er.
»Wieso, na, dann nimm Pascha!« empfahl ihm Sergej Pawlowitsch gelassen. »Schreib: Pawel Kornienko!«
Viktor schüttelte den Kopf. Etwas sagte ihm, daß Pascha nicht begeistert wäre, wenn er erfuhr, daß unter seinem Namen Artikel veröffentlicht wurden, und auch noch über das gute Herz seines Chefs.
Schließlich winkte Sergej Pawlowitsch ab.
»Also denk dir ein Pseudonym aus, zum Teufel mit dir!«
Und Viktor schrieb ans Ende der vierten Seite, unter den durchgestrichenen ›engsten Freundeskreis‹: Sergej Fischbein-Stepanenko.
»Einfacher ging es wohl nicht?« sagte der Chef stirnrunzelnd. »Streich den ›Fischbein‹, sonst werfen sie mir noch vor, ich umgebe mich mit Juden!«
Gehorsam strich Viktor den Familiennamen, der nicht gefiel, und wurde einfach Sergej Stepanenko. Genau der, der sein toter Freund gewesen war, ehe er den Entschluß gefaßt hatte, nach Israel auszuwandern. Seltsam, dachte Viktor, sogar nach dem Tod kam noch alles wieder ›an den Ort, da es anfing‹.
Ehe der Chef Viktor entließ, zeigte er ihm noch die Fotos, die Pascha im Kinderheim geschossen hatte. Sergej Pawlowitsch selbst betrachtete sie mit größerem Interesse als Viktor, und man konnte sehen, daß er sie nicht zum ersten Mal durchsah.
[468] »Siehst du, wie schön das ist, Gutes zu tun!« sagte er und nickte zu den Fotos mit den glücklichen, lachenden Kindergesichtern. »Nur schade, daß das Gute nicht für alle reicht!«
92
Eine Woche später gab es im Land der virtuellen Kiewer Journalisten einen Soldaten der Feder mehr. Zu ihnen war posthum Sergej Stepanenko gestoßen.
Nachdem er die nächtliche Stille abgewartet hatte, verschanzte Viktor sich nach alter Gewohnheit in der Küche am Tisch. Er öffnete eine morgens gekaufte Flasche Smirnoff und veranstaltete eine kleine, traurige Feier. Ein Halbliterglas eingelegte Gurken und Kochwurst in Scheiben ergänzten das ›Junggesellen-Stilleben‹. Zwischen dem Stilleben und Viktor lag die Zeitung mit dem Artikel, den ›Sergej Stepanenko‹ über die Wohltätigkeit des Abgeordneten Sergej Pawlowitsch geschrieben hatte. Ein Foto des Abgeordneten prangte daneben.
Viktor las den Artikel durch und konnte keine redaktionellen Änderungen entdecken. Dann faltete er die Zeitung wieder zusammen und betrachtete das Titelblatt: ›Ukraine-Kurier‹. Das erste Wort war blau gedruckt, das zweite gelb, der Patriotismus der Herausgeber war demonstrativ. Viktor seufzte hilflos und schenkte sich Wodka ein.
Er erhob sich halb und prostete der bronzenen Urne zu, in der nun die Asche Sergej Fischbein-Stepanenkos wohnte.
[469] »Auf deine erste Veröffentlichung!« gratulierte er der Urne flüsternd und kippte den Wodka hinunter.
Er nahm eine Gurke, biß ab, schenkte sich noch Wodka ein und starrte auf die Küchentür. Er wartete darauf, daß sie sich öffnen und auf der Schwelle Mischa wie immer für einen Moment reglos verharren würde. Aber heute nacht hatte es der Pinguin nicht eilig, in die Küche zu kommen. Als wollte er Viktor nicht von seinen bitteren Gedanken ablenken.
Anlaß zum Nachdenken hatte Viktor genug. Über die Zeitung, über ihre erste Nummer mit seinem Artikel.
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