Pinguine frieren nicht
nachts in der Küche, wenn alle schlafen.«
»Lieber nicht«, sagte Viktor. »Du willst doch kein Soldat sein und in den Krieg ziehen?«
»Nein, Soldat werde ich nie!« erklärte das Mädchen entschieden.
»Aber ein Journalist, das ist so was wie ein Soldat«, erklärte Viktor. »Eine Zeitung stellt dich an, zeigt mit dem Finger auf den Feind, gibt dir statt eines Gewehrs einen Kuli in die Hand, und dann mußt du losschreiben, lauter Schweinereien über ihn! Bis du umgebracht oder verwundet wirst!«
»Hast du gerade Schweinereien geschrieben?« fragte Sonja lebhaft und spähte auf das oberste Blatt des Artikels.
»Nein, ich habe über die Kinder im Heim geschrieben, bei denen wir heute waren…«
»Und um über die zu schreiben, muß man nicht unbedingt ein Journalist sein?«
»Nein, nicht unbedingt.«
»Na gut.« Sonja nickte. »Dann gehe ich jetzt schlafen.«
[464] 91
Früh am Morgen, noch vor dem Frühstück, zog Viktor sich an, rollte den gestern verfaßten Artikel zusammen, ohne ihn noch mal zu lesen, und steckte ihn in die Innentasche seiner Jacke.
Auf der Straße schneite es wieder ein wenig. In der Dunkelheit vor Tagesanbruch erinnerten die gelben städtischen Laternen an Pusteblumen, ihr Lichtkreis war klein, Schneeflocken tanzten darin, färbten sich in seinem Schein für einen Moment und fielen gleich darauf zu Boden. Aus den benachbarten Hauseingängen traten Leute in die winterliche Morgenfinsternis heraus und eilten zur Arbeit. Das hatte etwas Seltsames, Ungewöhnliches, etwas aus der sowjetischen Vergangenheit mit ihrer Arbeitsdisziplin, den Strafen fürs Zuspätkommen und den ›Helden der Sozialistischen Arbeit‹. Viktor sah den zur Straße, zur Bushaltestelle eilenden Schatten nach und begriff, daß das Leben tatsächlich wieder zu einer Art Alltagsrhythmus gefunden hatte. Das hieß, irgendwelche Fabriken arbeiteten wieder, die Erde drehte sich weiter, und alles auf ihr wuchs und war in Bewegung. Aber es war eindeutig ein anderes, ein Parallelleben. Das war nicht sein Leben. Ihre Leben kreuzten sich nicht. Die Leute, die sich hinter dem alltäglichen Rhythmus versteckten, ignorierten, was ihnen nicht gefiel, oder merkten es nicht. Dabei lasen sie doch auch Zeitung, sahen fern! Richtiger gesagt, sie lasen und guckten und freuten sich, daß es dort nicht um sie ging, daß keiner einen Grund hatte, sie umzubringen. Sie hatten keine zehntausend Dollar Schulden, sie betrieben kein [465] Geschäft, sie wichen aus, wenn es die Gelegenheit gab, ein absehbares Opfer der neuen Wirklichkeit zu werden. Und jetzt standen sie exakt dann auf, um zur Arbeit zu gehen, wenn die Parallelwelt gerade eben eingeschlafen war.
Diese plötzliche Vereinigung mit der gewöhnlichen Welt durchdrang Viktors Gedanken auf einmal mit einer Art Heimweh, nicht nach der sowjetischen Vergangenheit, sondern nach jener geschlossenen, einheitlichen Welt mit ihrem Einheitsleben, in dem man selbst einheitlich und geschlossen sein konnte.
Im Zentrum ging Viktor bei McDonald’s auf dem Platz der Unabhängigkeit vorbei. Er nahm sich einen Kaffee und einen heißen Krapfen und verschanzte sich an einem Tisch in der Ecke. Jenseits der großen Glasscheibe fiel leichter, flaumiger Schnee. Hinter dem Schneevorhang bogen die Trolleybusse auf den Platz und brachten immer neue Massen Werktätiger heran. Die Menschenmenge, die in einem endlosen Marsch an McDonald’s vorbeizog, ließ Viktors schon erwachtes Bewußtsein nicht mehr in Ruhe. Schließlich drehte er der Straße, diesen Leuten und dem fallenden Schnee den Rücken zu.
Um halb zehn war er in Golossejewo. Sergej Pawlowitsch wanderte schon im Tigerfellmorgenmantel durch sein Haus. Pascha war nicht da. Der Chef kochte selbst Kaffee. Sie blieben gleich in der Küche, und Viktor überreichte Sergej Pawlowitsch den Artikel und rührte sich Zucker in seine Kaffeetasse.
Sergej Pawlowitsch vertiefte sich in den Text. Viktor konnte an seinem Gesichtsausdruck sehen, daß ihm der Artikel gefiel. An der Qualität des Artikels hatte Viktor [466] auch eigentlich nicht gezweifelt, eher am Geschmack des Chefs. Und auch das nicht allzu sehr.
Als er die letzte Seite durchgelesen hatte, erstarrte Sergej Pawlowitsch plötzlich bei irgendeiner Zeile. Seine Lippen spannten sich zu einem dünnen Strich.
Viktor wurde nervös. Er hatte schon vergessen, wie der Artikel endete. Eigentlich war dort doch alles normal.
Der Chef sah Viktor an.
»Du hast einen komischen Sinn für Humor«, sagte er
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