Pinguine frieren nicht

nicht, daß ich auch gestorben bin!«
    Allmählich gewann Viktor die Fassung wieder. Der letzte Satz hatte tatsächlich ganz nach dem Ex-Chef geklungen. Der Ex-Chef fuhr inzwischen fort: »Und da [448] erfahre ich, der Genosse Solotarew, Spitzname ›Pinguin‹, ist lebend und unversehrt wieder aufgetaucht, und wieder mit dem Pinguin… Los, denke ich mir, wir müssen uns sehen! Du bist ja doch ein erstklassiger Fachmann, verstehst du. Ich weiß, du bist jetzt Abgeordnetenberater. Und das ist richtig, wie Gorbatschow zu sagen pflegte. Unser Land ist groß, aber an Leuten, die denken und handeln, oder zumindest denken können, herrscht katastrophaler Mangel. Die reinste Kaderwüste!« Igor Lwowitsch breitete die Arme aus. »Die Zahl der Probleme im Land übersteigt um ein Vielfaches die Zahl der Leute, die imstande wären, sie zu lösen… Aber das siehst du ja selber! Nimm nur deinen Abgeordneten! Auf die Vergangenheit dieses Menschen schaut schon keiner mehr. Alles vergeben, alles vergessen! Hauptsache, er kann zwei zusammenhängende Worte sprechen!«
    Igor Lwowitsch machte eine längere Pause, als wollte er Viktor Gelegenheit geben, auch etwas beizusteuern. Aber Viktor sah seinen Ex-Chef nur stumm an. Er war es wirklich, nur das Gesicht runder und unter den Augen Tränensäcke, die entweder von einer kranken Leber oder einfach von schlaflosen Nächten und einem ungesunden Lebenswandel zeugten. Dafür kleidete er sich jetzt um einiges teurer als früher. Und die Rolex an seinem linken Handgelenk war sicher echt, keine chinesische.
    »Ich habe hier eine neue kleine Zeitung angemeldet. In zehn Tagen erscheint die erste Nummer. Sie heißt ›Ukraine-Kurier‹. Kauf sie dir, wenn du sie siehst! Lies sie! Vielleicht fällt dir das ein oder andere ein! Und ich werde mich gern von dir beraten lassen. Deine Meinung ist mir [449] teuer! Irgendwann mache ich dich vielleicht zum Chefredakteur…«
    Unvermittelt blickte Igor Lwowitsch auf seine Rolex. Er bat den Fahrer, den ersten nationalen Radiokanal zu suchen und lauter zu stellen. Nach etwa zwanzig Sekunden drang aus der Hi-Fi-Anlage des Wagens das Schlagen der ukrainischen Glocken. Der Chef strahlte.
    »Ich liebe die Signale der exakten Zeit!« sagte er.
    Dann öffnete er die zwischen den zwei Vordersitzen eingebaute kleine Bar, zog dort eine Flasche Sekt und zwei Gläser heraus. Per Knopfdruck ließ er das Fenster runter, schoß den Korken hinaus und schloß es wieder.
    »Na, also.« Er sah Viktor mit einem vergnügten Funkeln in den Augen an. »Aufs neue Jahr, auf weitere Begegnungen!«
    Igor Lwowitschs Glas klirrte leicht gegen Viktors Glas.
    »Trink, trink, sonst verschwinden die Bläschen! Also, ich muß weiter!« erklärte der Ex-Chef, als er seinen Sekt geleert hatte. »Noch dreizehn Leuten gratulieren. Das Teufelsdutzend! Jetzt hast du mir gar nichts von dir erzählt! Na, macht nichts, das nächste Mal! Bis dann!«
    Man ließ Viktor im Stadtteil Petschersk hinaus, zwischen der Metrostation ›Arsenalnaja‹ und dem Platz des Ruhmes. Der Mercedes fuhr Richtung Höhlenkloster davon. Und wie im Sog der Bewegung ging Viktor noch hinter dem Wagen her, betäubt und gelähmt von dieser unerwarteten Begegnung. Es gelang ihm nicht mal ansatzweise, über dieses Wiedersehen nachzudenken, als ob sich sein Kopf weigerte, die erhaltene Information anzunehmen, auf die Weise Viktors Zurechnungsfähigkeit verteidigend. [450] Nur ein Satz blitzte immer wieder in seinen Gedanken auf: ›Wenn sie mich begraben haben, heißt das noch lange nicht, daß ich auch gestorben bin!‹
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    Abends äußerte Sonja unter dem Siegel der Verschwiegenheit erneut ihren Verdacht hinsichtlich Ljoschas Sympathien für Nina. Nina half Ljoscha gerade, auf seinem Stuhl zum Waschen und Zähneputzen ins Bad zu fahren.
    »Na und?« fragte Viktor das Mädchen.
    »Wie, na und?« wunderte sich Sonja. »Er ist doch unser Gast! Du darfst es ihm nicht erlauben!«
    »Weißt du was?« Viktor sah Sonja gerade in die Augen. »Es ist ja gut, wenn du nach dem rechten siehst, aber mische dich nicht ins Leben der Erwachsenen. Klar?«
    Sonja seufzte und ging ohne eine Antwort aus der Küche.
    Im Schlaf spürte Viktor Ninas Hand auf seinem Rücken. Sie streichelte ihn. Er rutschte ein klein wenig weiter zu seiner Bettkante, aber ihre Hand berührte seine Haut wieder. Er drehte Nina den Rücken zu, und im gleichen Moment brannte etwas leicht auf seiner Schulter. Ninas Hand spürte er nicht mehr, aber ein gewisses Brennen an