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Pinguine frieren nicht

Pinguine frieren nicht

Titel: Pinguine frieren nicht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrej Kurkow
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sich an die letzte Nacht zu erinnern, aber die war wie aus dem Gedächtnis ausradiert. Ohne irgendwelche Injektionen. Kein Vergleich zu jener ersten Nacht mit dem Himmelsteppich unter den warmen Luftzügen der Ventilatoren.
    »Olja!« rief Marina leise, ohne die Augen aufzumachen.
    Die Tür ging auf, und das Dienstmädchen schaute herein.
    [212] »Mach Kaffee und hol frische Brötchen!«
    Viktor schämte sich auf einmal. Er bemerkte Oljas Blick auf sich, flüchtig und vollkommen gleichgültig. Er verspürte den dringenden Wunsch, sich unter der Decke zu verkriechen, aber da war das Dienstmädchen schon weg.
    Marina setzte sich auf die Bettkante, stellte die Beine auf den Boden und streckte sich mit hochgereckten Armen. Dann stand sie auf, trat vollkommen nackt ans Fenster und reckte sich noch mal.
    Viktor sah sie an, ihren athletischen Rücken, die etwas breiten Hüften, und dachte wieder: ›Breitknochig‹. Und dieses Wort klang in seinen Gedanken geradezu bedauernd und mitfühlend, als wäre diese Breitknochigkeit ein schrecklicher Makel, der aus dem Leben der Frau eine Tragödie machte.
    Marina kam zum Bett zurück. Sie sah ihn an, seine Schultern, die unter der Decke hervorschauten, sein Gesicht, seine Augen. »Weißt du«, sagte sie. »Aus dir könnte man noch was Anständiges machen. Du müßtest ins Fitneßstudio, Massagen nehmen… Im Unterschied zu meinem Mann bist du nicht völlig impotent. Aber auch nicht gerade ein Soldat…«
    Sie nahm den bordeauxroten Morgenmantel von der Stuhllehne und hängte ihn sich um.
    »Aufstehen, Zeit für Kaffee«, sagte sie im Hinausgehen.
    Zusammengelegt auf einer Stuhllehne in der Ecke erblickte Viktor seine Kleider. Er zog sich an, ging hinüber in das riesige Wohnzimmer und erblickte Marina im Sessel an dem Zeitungstisch, die geschminkten Lippen schon an einer dampfenden Kaffeetasse.
    [213] »Wie wäre es«, sagte sie lächelnd, »sollen wir noch mal deine Zukunft lesen?«
    »Lieber nicht«, bat Viktor.
    33
    Der Abschied von Marina war fast ergreifend. Sie küßte Viktor auf den Mund, dann noch auf die Wange und sah ihn lange aus ihren schwarzen schrägen Augen an.
    »Wenn du in Moskau bist, ruf mich an!« sagte sie und zog den Gürtel ihres bordeauxroten Morgenmantels fester. Erst dann ging die Tür zu.
    Als Viktor im Aufzug nach unten fuhr, fühlte er sich wie ein Kosmonaut auf dem Rückweg zur heimatlichen Erde. Und dann war da noch ein anderes Gefühl: Er fühlte sich wie ein Versuchskaninchen. Als hätte man an ihm experimentiert, ob für ein Medikament, die Wirkung von Hypnose oder neue Verhör- und Befragungsmethoden – das war nicht wichtig. Wichtig war das Gefühl, das in der Seele zurückblieb. Das Gefühl, irgend etwas nicht ganz erkannt und begriffen zu haben. Das unerfreuliche Gefühl, daß man ihn für irgendwelche Zwecke benutzt hatte. Dabei hinterließ die offenbare Tatsache, daß er auch von der schlitzäugigen Koreanerin Marina benutzt worden war, als falscher Kurier und als Körper, überhaupt keine negativen Empfindungen. Seine ganze Aufmerksamkeit und Kränkung konzentrierte sich auf den juckenden, schon verheilenden kleinen Einstich in der rechten Armbeuge. Durch dieses Löchlein hatte man etwas in ihn [214] hineingespritzt und etwas anderes herausgezogen. Es war, als ob man in sein Bewußtsein oder sogar sein Unterbewußtsein eingebrochen wäre und er immer noch nicht wüßte, was ihm dabei abhanden gekommen war. Und dann war da noch das unangenehme Gefühl im linken Schuh, der im Fang des Pitbulls Bossik gesteckt hatte. Etwas drückte dort und scheuerte beim Gehen sogar durch die Socke hindurch.
    Die Aufzugtüren schoben sich langsam auseinander, und Viktor nickte dem Leibwächter und Concierge automatisch zu und trat auf die Straße hinaus.
    Zähe Autoströme flossen in beide Richtungen über den Kutusowprospekt. Viktor sah auf die Uhr: halb zwölf. Bald Zeit für ein Mittagessen.
    Beim Gedanken ans Essen meldete sich in seinem Geist das Restaurant ›Peking‹, in dem Sergej Pawlowitschs Bekannter Bim zu finden war. Er konnte ihn um Hilfe bitten. Allein würde er diesen Bankier nicht ausfindig machen, und wenn, dann würden die Leibwächter dieses Bankiers ihn nicht mal in seine Nähe lassen. Da brauchte man Empfehlungen, und zwar von Leuten wie Sergej Pawlowitsch. Das hatte Viktor inzwischen begriffen.
    34
    Auf dem Majakowskiplatz, gegenüber der Philharmonie, wechselte Viktor hundert Dollar und machte sich auf ins Restaurant

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