Pinguinwetter: Roman (German Edition)
Version war circa sechs Jahre alt und mit Sicherheit Einzelkind.
Er begrüßte mich, als ich mich entnervt auf meinen Fensterplatz fallen lassen wollte, mit einem kreischenden: »Nein, da darfst du nicht sitzen! Das ist mein Platz am Fenster!«
Seine Mutter ergänzte seine charmante Begrüßung, sicher nicht ohne Hintergedanken: »Justin-Marvin, das ist der Platz von der Tante hier. Sie hat ihn reserviert. Aber wenn du ganz lieb fragst, vielleicht tauscht sie dann ihren Platz mit dir und lässt dich am Fenster sitzen.«
Mit erwartungsvollen Blicken schauten Mutter und Kind mich an.
Ich möchte tot sein, dachte ich und lächelte die junge Mutter versteinert an, die mit hundertprozentiger Sicherheit genauso kalkuliert hatte.
»Aber natürlich kannst du am Fenster sitzen.« Ich seufzte resigniert, setzte mich auf den Platz am Gang und überließ meinen Fensterplatz der Teufelsbrut.
Ein weiteres Mal nahm ich mir vor, nie wieder Bahn zu fahren, würde es aber in spätestens einem Jahr erneut vergessen haben und es aufs Neue probieren. So in etwa musste es auch mit einer Geburt sein. Nach einer gewissen Zeit vergaßen die Mütter das Gemetzel und waren bereit, ein weiteres Kind zu bekommen. Das war extra von Mutter Natur so eingerichtet, damit der Nachwuchs gesichert war. Ich hatte es live an Trine erlebt, die während und nach Finns Geburt den Satz »Nie wieder!« ungefähr zweitausendmal wiederholt hatte und jetzt, ein paar Jahre später, wieder glücklich schwanger war. Tausende Bahnkunden gingen einem ähnlichen Prinzip auf den Leim. Ich fühlte mich Mutter Natur näher denn je.
Die Fahrt gestaltete sich erwartungsgemäß eher lautstark, und die Diskussionen von Mutter und Kind stellten ein glänzendes Beispiel totaler Sinnlosigkeit dar.
»Justin-Marvin, mach das Fenster zu, es zieht!«, sagte die Mutter nach wenigen Minuten Fahrt.
»Nein!«
»Doch!«
»Nein!«
»Doch!«
»Nein!«
Justin-Marvin hatte mittlerweile einen hochroten Kopf vom Brüllen bekommen und schmierte seine triefende Nase an den Zugsitzen ab.
Ich war eben noch kurz davor gewesen, ein neues Wort vorzuschlagen, bis ich bei diesem Anblick vorzog, einfach die Augen zu schließen.
Den absoluten Höhepunkt der Fahrt erlebte ich, als ich meinen MP 3-Player extra laut stellte, um Justin-Marvins Gebrüll zu übertönen, und Justin-Marvins Mutter mich von der Seite mit den Worten antippte: »Können Sie das bitte leiser stellen, das stört!«
Fassungslos und um Luft ringend starrte ich in ihr Gesicht, das sie selbstbewusst wieder zurück zum Fenster drehte.
Ich konnte sie in diesem Kampf auf keinen Fall gewinnen lassen und antwortete ruhig: »Ich kann Sie nicht verstehen, es ist so laut hier!«
Dann drehte ich die Musik bis zum Anschlag auf. Das war mein persönlicher Kreuzzug für heute – und den hatte ich gewonnen.
Die letzten zwanzig Minuten der Fahrt verbrachte ich mit geschlossenen Augen und dem neuen Pink-Album, das mir über Justin-Marvins Kreischattacken hinweghalf. Nur ab und zu spürte ich einen Seitenhieb oder einen Tritt gegen mein Schienbein, als Justin-Marvin Sitzhüpfen übte.
Als ich endlich aussteigen konnte, bemitleidete ich kurz den nächsten armen Reisenden, der sich unwissentlich den Platz neben Justin-Marvin reserviert hatte und freudestrahlend neben der netten jungen Mutter mit Kind Platz nahm.
*
Der alte Bauernhof meiner Oma war nicht mit öffentlichen Verkehrsmitteln zu erreichen. Deshalb bestellte ich mir ein Taxi bei dem einzigen Taxiunternehmen des Dörfchens, das auch nur einen einzigen Taxifahrer beschäftigte. Gerd Lämmle war seit über vierzig Jahren der Fahrer des Ortes und kannte jeden Bewohner persönlich. Jeden Besucher auch, spätestens nach einer Fahrt.
»Lotte, Mädchen, na, das is aber ne Freude, dass du ma wieder den Weg hierhergefunden hast! Dich hamm wa ja schon ewig nich gesehn!«, begrüßte er mich freudestrahlend. »Bist ja jetzt unter die Karrierefraun gegangen, wa? Da hat man ja immer kene Zeit, wa?«
Er schmiss meine Tasche mit einem Wumps! in den Kofferraum.
Ich lächelte ihn schmallippig an und nickte stumm.
Ha! Karrierefrau! Aber klar doch, eine bessere Bezeichnung für mich fällt mir auch kaum ein. Rolltreppe abwärts, sag ich da nur!
Auf der Fahrt bei offenem Fenster blies mir die frische Landluft ins Gesicht, die ich seit Kindertagen so liebte. Zwar hielt diese Liebe meist nur zwei bis drei Tage, aber immer wenn ich hier ankam, war es erst mal die pure Erholung.
Gerd
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