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Pink Hotel

Pink Hotel

Titel: Pink Hotel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anna Stothard
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unter einem elastischen Gurt eine Plastikhülle voller
maschinengeschriebener Papiere in Juristensprache über das Pink Hotel, in denen
es von »Bevollmächtigten«, »Obengenanntem« und »Nachstehendem« nur so wimmelte.
Unter dem Gurt steckten auch ein Abschlusszeugnis und ein Evaluationsbericht
von einer Krankenpflegeschule in einer Stadt namens Glendale. Darin hieß es,
Lily sei »engagiert und begeisterungsfähig«. Dahinter kam ein Foto von ihr in
rosa Schwesterntracht zum Vorschein, den Arm um einen alten, lässig-elegant
wirkenden Herrn gelegt. Auf der Rückseite stand »Teddy und Lily, Malibu
Mansions«. Dann war da noch ein Stapel Straßenkarten, vor allem von
amerikanischen Staaten – Nevada, Alabama, Kalifornien –, aber auch von
europäischen Städten: Florenz, Berlin, London. Auf den Karten waren Routen
eingezeichnet, die komische Muster auf dem Straßennetz ergaben. Ob es möglich
war, dass sie diese Reisen unternommen hatte, ohne je nach mir zu suchen? Ich
versuchte mir Lily in London vorzustellen, auf einem U-Bahnsteig oder durch die
Abgase der Finchley Road laufend, den Blick gesenkt, um keine Aufmerksamkeit zu
erregen. Hatte sie mich je aus [41]  der Ferne beobachtet, ohne sich zu erkennen
zu geben – mir vielleicht beim Fußballspielen zugesehen oder auf dem Schulhof,
oder wie ich im Café die Leute bediente?
    Ich hoffte, unter all den im Koffer verstauten Erinnerungen auch ein
Foto von Dad oder mir zu finden, aber es gab praktisch nur Aufnahmen von Lily.
Mal schwamm sie mit ihrem Mann in einem Pool auf einer Dachterrasse, dann
wieder trank sie irgendwo auf dem Land Rotwein oder trug ein strassbesetztes
Cocktailkleid mit Pelzcape. Auf einem Polaroid stand sie mit einem Motorrad vor
einem flachen blauen Betongebäude unter einem Schild mit der Aufschrift »Eagle
Motorcycles«. Es war dasselbe Bike, mit dem sie auf dem Nachttischfoto im Pink
Hotel posierte; ich nahm an, dass es ihres war, vielleicht das, auf dem sie gestorben
war. Es wirkte schlank und glänzte, hatte einen Schalensitz aus schwarzem Leder
und einen silbernen Lenker.
    In einem Seitenfach des Koffers fand ich einen ganzen Stapel
Weihnachts- und Geburtstagskarten sowie einige Ansichtskarten und Briefe.
Manche Karten waren von diesem Teddy auf dem »Malibu Mansions«-Foto. Am meisten
fesselten mich jedoch die auf dünnes Papier getippten Briefe, die anstelle
eines Namens mit »in Liebe, für immer und ewig« unterschrieben waren. Die
Schreibmaschine hatte lange Buchstabenreihen in das Papier geprägt. Ich stellte
mir vor, wie Lily die Wörter mit den Fingern abgetastet hatte, als wäre es
Brailleschrift. »Der Himmel vor meinem Fenster ist blutrot heute Abend, und ich
denke an Dich«, fing einer von ihnen an. »Als wir uns das erste Mal begegnet
sind, hattest Du einen [42]  kleinen roten Regenschirm in der Hand. Weißt Du noch?
Seitdem muss ich bei der Farbe Rot an Dich denken.« Kein Datum, kein Name stand
auf den schönen Briefen. »Später lernte ich Deine roten Kleidchen kennen«, hieß
es weiter in dem Brief, »und die Armee feuerroter Lippenstifte auf Deinem
Schminktisch.« Beim Lesen der Briefe kam ich mir vor wie ein Kind, das
gelauscht hat und nun verwirrt ist von den Wörtern und Gefühlen der
Erwachsenen. Ich faltete die Briefe so, wie ich sie gefunden hatte, und steckte
sie zurück in den Koffer. Dann dachte ich daran, dass sie vielleicht von dem
Rothaarigen waren, und fühlte mich prompt schuldig. Vielleicht würde er den
Diebstahl der Polizei melden und sagen, sie sollten nach einem Mädchen mit
Basecap und rotem Koffer suchen. Natürlich konnten die Liebesbriefe auch von
David sein. Auf jeden Fall hätte ich gern das Zeitschriftenfoto gefunden, von
dem er gesprochen hatte, damals, als Lily Model gewesen war und er sie
kennengelernt hatte.
    In den nächsten Stunden schlief ich traumlos, die Sorte Schlaf, die
einen wie ein schwarzes Loch umfängt und nach der man wie gerädert aufwacht.
Angezogen döste ich auf dem Bett ein und schlug, umnachtet vom Jetlag, acht
Stunden später die Augen wieder auf, verschwitzt von der Sonne, die inzwischen
zum Hotelfenster hereinflutete. Ich atmete tief durch und horchte auf die
seltsamen Geräusche draußen im Flur. Im Nebenzimmer stritten sich zwei
Australier, ob sich Bambus oder Fiberglas besser für die Surfboardproduktion
eignete. Vor dem Fenster sang ein kleines Mädchen einen [43]  Popsong, eine
Polizeisirene jaulte, und irgendwo lief eine Dauerwerbesendung

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