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Pink Hotel

Pink Hotel

Titel: Pink Hotel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anna Stothard
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Wangen hinterlassen. Es sollte verhindern, dass
sich ihr Haar über Nacht statisch auflud. Sie sah morgens immer älter aus, ihr
Gesicht ein Erdrutsch, [47]  dessen Verwerfungen sich erst im Lauf des Tages
allmählich glätteten.
    »Hallo?« Erst ein Schlucken, dann ein
Husten. »Wer ist da?«
    »Ich«, sagte ich leise.
    »Du dummes Gör«, blaffte Daphne sofort über die Störgeräusche in der
Leitung hinweg los, »schwing deinen Arsch nach Hause, klar?« Ich stellte mir
Dad vor, den behaarten Bauch unter der geklauten Tagesdecke, wie er die Hand
ausstreckte, um Daphne das Telefon zu entwinden.
    »Glaubst du etwa, ich kontrolliere unsere Kontoauszüge nicht? Ich
will, dass du das nächste Flugzeug nach Hause nimmst«, sagte Dad streng und
setzte sicher gerade verärgert im Dunkeln seine Brille auf. »Sofort. Hast du
mich gehört? Nimm das nächste Flugzeug nach Hause, oder wir rufen die Polizei.«
    »Ganz genau«, bestätigte Daphne im Hintergrund. Dazu fiel mir nichts
ein – auf einmal war mein Kopf leer, und meine Zunge fühlte sich an, als läge
sie doppelt so groß in meinem Mund. Ich sah hinunter auf meine abgetretenen
Turnschuhe auf dem Asphalt; meine Hände umklammerten eine Zigarette wie einen
Talisman. Ich konnte nur noch den Hörer auflegen. Es fällt mir oft schwer, die
richtigen Worte zu finden. Manchmal kommt es mir so vor, als sei die sprechende
Person von der denkenden in mir getrennt. Ich fühlte mich in die Defensive
gedrängt, wusste aber, dass sie völlig zu Recht wütend waren.
    Dads kleines Café lag an der Finchley Road, einer [48]  asthmatischen
Schnellstraße, die von der U-Bahn-Station Swiss Cottage abgeht. Es lag in einer
Reihe mit noch drei anderen Läden – ein Schuhgeschäft, ein Zeitungskiosk, ein
Friseur und wir. Wir hatten die Wohnung über dem Café, die auf der einen Seite
auf eine Ansammlung schicker Reihenhäuser mit akkurat gestutzten Vorgärten
hinausging und auf der anderen Seite auf den Bahnhof von South Hampstead, neben
dem sich eine klotzige, langgestreckte graue Wohnanlage befand. Einen Steinwurf
von diesem Gebäude entfernt bin ich früher zur Schule gegangen, aber als ich
zwölf war, wechselte ich auf das weiter entfernte Gymnasium. Die Wände des
Cafés waren hellblau, mit schablonengemalten Blumen an den Rändern, aber der
ewige Frittierdunst hatte die Farbe oben grau anlaufen lassen. Jeden Tag nach
der Schule hockte ich im Schneidersitz auf der großen Gefriertruhe im
Hinterzimmer und machte Hausaufgaben. Unter der Woche ließ Dad mich nie
kellnern, nur an den Wochenenden, weil Opa ihn zum Arbeiten nach der Schule
gezwungen hatte, so dass Dad es in der Schule nie zu etwas brachte. Er war mit
sechzehn abgegangen und wollte mir dieses Schicksal ersparen. Wenn ich mit den
Hausaufgaben fertig war, half ich entweder Dad mit der Buchführung, oder ich schnappte
mir mein Fahrrad und ging in dem Gewirr von graugepflasterten Fußwegen und
miteinander verbundenen Mietskasernen hinter dem Café spielen. Die Wohnanlage
stellte eine eigene kleine Stadt dar, die jedes Mal zitterte, wenn ein Zug
unterirdisch vorbeifuhr. Es war ein länglicher, schmaler Block, der sich in [49]  einem
Bogen von einem knappen Kilometer Länge an einer Seite der Bahngleise
entlangzog. Zu jeder Wohnung gehörte ein Balkon, auf denen vertrocknete Blumen
die Köpfe hängen ließen oder Wäscheleinen gespannt waren. Auf manchen gab es
auch Sonnenschirme, die mit der aufgedruckten Brauereiwerbung aussahen wie aus
einem Biergarten geklaut. Die ganze Gegend war ein einziges Labyrinth von
Fußwegen, Treppenaufgängen und Spielplätzen, in dessen Winkeln sich hin und
wieder Blumenbeete versteckten. Bestimmt hatte sich ein begeisterungsfähiger
Architekt vorgestellt, dort würden einmal massenhaft Geranien und Margeriten
wachsen, aber sie waren immer nur voller trockener Erde und genauso trockenem
Efeu. Eine zittrige alte Dame pflanzte hin und wieder eine vereinzelte Blume.
Sie lief stets mit einem Riesensonnenhut und in viel zu engen Jogginghosen
herum. Die Bündchen schnitten ihr in die Waden, darunter schauten die bloßen
Knöchel heraus. Ihre einsame lila Chrysantheme ging in einem Brennnesselfeld
meist schon nach einer Woche ein.
    Nachdem ich das Gespräch mit Dad unterbrochen hatte, setzte ich mich
auf den Bordstein und stellte Lilys Koffer vor mich hin. Es dauerte nicht
lange, und durch die kalifornische Hitze und über die beständig anschwellende
Geräuschkulisse des 7-Eleven-Parkplatzes mit seinen

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