Piper und das Rätsel der letzten Uhr
lassen.
6. Kapitel
Es gibt Momente, in denen man die nahende Nacht fast schon riechen kann. Das hier war so einer.
Die Schatten wurden lang wie Tintenstriche einer unruhigen Feder; und der Wind machte Geräusche, die wie Knistern und Heulen klangen, nur anders, fremder.
Der schwarz-weiße Wald war anfangs noch immer ein Wald, aber je länger sie der Spur folgte, umso komischer wirkte er. Es wurden immer weniger Bäume, stattdessen ging Piper nun über Steine und Felsen, die so zerklüftet waren wie zerknülltes Papier. Trotz der hereinbrechenden Dunkelheit war die Gegend hell. So hell, dass sich Piper eine Sonnenbrille gewünscht hätte. Ihre Augen fingen mit der Zeit an zu brennen. Alle Felsen und Steine waren weiß wie Kieselsteine, aber es waren natürlich keine Kieselsteine; sie waren nicht rund und glatt, sondern schroff und wild. Die Gegend sah aus wie diese Styropormodelle, die man in Bastelgeschäften kaufen und selbst anmalen konnte.
Sie fragte sich, ob die Tiere wussten, dass der Weißwald gar kein Wald mehr war, sondern nur eine öde Gegend, in der irgendwie gar nichts richtig wuchs. Als wäre die Langeweile ruck, zuck zu einer echten Landschaft geworden, die sich nicht richtig entscheiden konnte, was sie machen sollte.
Piper fühlte sich mit einem Mal verloren und einsam. Sie hatte Angst. Da gab es nichts zu leugnen. Die Gegend war ihr zunehmend unheimlich und jetzt, da die Nacht sich ankündigte und niemand mehr bei ihr war, fragte sie sich ernsthaft, ob sie zu einem Abenteuer wie diesem hier bereit war. Die Sonne war schon fast untergegangen und Piper wurde bei dem Gedanken, die Nacht allein in dieser Gegend zu verbringen, ganz heiß und kalt.
Außerdem war sie müde. Die Füße taten ihr weh und ihre Augen wurden schwer. Sie wollte nur noch schlafen und stellte sich vor, wie angenehm es doch wäre, sich in einer gemütlichen Höhle oder unter einem Baum verstecken zu können. Sie malte sich schon aus, wie der Baum aussehen würde, und dann, plötzlich, tauchte genau so ein Baum wie aus dem Nichts vor ihr auf.
Der Baum war groß und mächtig und wuchs wie ein einsamer Turm mitten in dem steinigen Weißwald. Wilder Efeu rankte sich am Stamm des Baumes hinauf. Unter einem der Äste hatte der Efeu so etwas wie einen kleinen Unterschlupf geformt. Ja, es sah dort aus wie in einer behaglichen Höhle, in die ein Mädchen, das sich verloren fühlte, hineinkriechen konnte, um die Nacht zu überstehen. Der Baum war nicht einmal weiß, sondern er sah aus wie ein richtiger Baum.
Piper zog den Reißverschluss der Regenjacke hoch und kauerte sich in das weiche Laub. Sie lauschte den vielen verschiedenen Geräuschen der nahenden Nacht und wunderte sich, wie schnell die Dunkelheit kam. Tausende und Millionen wirrer Gedanken schwirrten in ihrem Kopf herum, aber sie war zu müde, auch nur einen einzigen davon richtig zu denken.
Es dauerte nicht lange und sie schlief erschöpft ein.
Sie träumte von ihren Eltern und der Reise, die sie gerade unternahmen. Der Traum war wie ein Comic, in dem sie blätterte. Sie sah ihre Eltern in kleinen Cottages zu Mittag essen, über grüne Hügel wandern und Schafe streicheln.
Irgendwie schien das alles sehr langweilig zu sein. So langweilig, dass sie davon aufwachte.
Sie schlug die Augen auf und alles, was sie umgab, war dunkel. Die Fetzen des Traums flatterten noch in der Nachtluft und dann waren sie fort.
Ich bin im Wald, dachte sie. Im Weißwald.
Piper atmete tief durch.
Noch immer befand sie sich in der behaglichen Efeuhöhle unter dem Baum und noch immer war es finsterste Nacht. Einige Augenblicke lang hatte sie Mühe zu erkennen, dass sie nicht mehr träumte.
Sie spähte vorsichtig in die Nachtschwärze und stellte fest, dass das Weiße überall verschwunden war. Überall standen jetzt Bäume, deren Umrisse in der Dunkelheit wie richtige Bäume aussahen.
War sie doch nicht mehr im Weißwald?
Sie war allein, so viel war klar. Dennoch fürchtete sie sich davor, die Aufmerksamkeit anderer Wesen geweckt zu haben. Immerhin war dies hier eine fremde Gegend und man konnte ja nie wissen…
Also hielt sie die Luft an und gab sich Mühe, ruhig zu atmen. Dann hörte sie Schritte.
Sei jetzt bloß mucksmäuschenstill!
Festzustellen, woher die Geräusche genau kamen, war ihr nicht möglich. Es war zu dunkel und der Wind spielte ihr Streiche. Doch dann sah sie ein flackerndes Licht, das schaukelte und über einen Hügel zu kommen schien
Piper schluckte.
Still!
Ihr war
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