Pippi Langstrumpf
Gartentür. Es war ein warmer und schöner Tag Ende August. Ein Birnbaum, der direkt hinter dem Zaun stand, streckte seine Zweige so weit herunter, daß die Kinder die kleinen, goldroten Augustbirnen ohne große Mühe abpflücken konnten. Sie kauten und aßen und spuckten die Kerngehäuse auf den Weg.
Die Villa Kunterbunt stand gerade da, wo die kleine Stadt aufhörte und das Land anfing und wo die Straße direkt in die Chaussee überging. Die Leute der kleinen Stadt machten gern ihre Spaziergänge in dieser Gegend, denn hier war die Umgebung der Stadt am schönsten.
Gerade als sie da saßen und Birnen aßen, kam ein Mädchen den Weg von der Stadt her. Als sie die Kinder sah, blieb sie stehen und fragte:
„Habt ihr meinen Vater hier vorbeigehen sehen?“
„Mja“, sagte Pippi, „wie sieht er aus? Hat er blaue Augen?“
„Ja“, sagte das Mädchen.
„Richtig groß, nicht zu groß und nicht zu klein?“
„Ja“, sagte das Mädchen.
„Schwarzen Hut und schwarze Schuhe?“
„Ja, ganz richtig“, sagte das Mädchen eifrig.
„Nein, den haben wir nicht gesehen“, sagte Pippi bestimmt.
Das Mädchen sah enttäuscht aus und ging ohne ein Wort weiter.
„Warte mal“, schrie Pippi hinter ihr her. „Hat er eine Glatze?“
„Nein, natürlich nicht“, sagte das Mädchen böse.
„Da hat er Glück“, sagte Pippi und spuckte ein Kerngehäuse aus.
Das Mädchen lief eilig weiter, aber da rief Pippi:
„Hat er unnatürlich große Ohren, die bis zu den Schultern reichen?“
„Nein“, sagte das Mädchen und drehte sich erstaunt um. „Du willst doch nicht behaupten, daß du einen Mann mit so großen Ohren hast vorbeigehen sehen?“
„Ich hab’ niemals jemand gesehen, der mit den Ohren geht. Alle, die ich kenne, gehen mit den Füßen.“
„Ach, wie dumm du bist! Ich meine, hast du wirklich einen Mann gesehen, der so große Ohren hat?“
„Nee“, sagte Pippi, „es gibt keinen Menschen, der so große Ohren hat. Das wäre ja komisch. Wie würde das aussehen? Man kann nicht so große Ohren haben. Wenigstens nicht hier in diesem Land“, fügte sie nach einer gedankenvollen Pause hinzu. „In China ist das ja etwas anderes. Ich sah einmal in Shanghai einen Chinesen. Seine Ohren waren so groß, daß er sie als Pelerine benutzen konnte. Wenn es regnete, kroch er nur unter die Ohren und hatte es so warm und schön, wie man es sich nur denken kann. Obwohl die Ohren es auch ganz gemütlich hatten. Wenn besonders schlechtes Wetter war, lud er seine Freunde und Bekannten ein, sich unter seine Ohren zu legen. Da saßen sie dann und sangen ihre schwermütigen Lieder, während es oben regnete. Sie hatten ihn seiner Ohren wegen sehr gern. Hai Shang hieß er. Ihr hättet nur sehen sollen, wenn Hai Shang am Morgen zu seiner Arbeit lief. Er kam immer in der letzten Minute angerannt, denn er schlief so gern lange, und ihr könnt euch nicht vorstellen, wie hübsch das aussah, wenn er angesaust kam und die Ohren wie zwei große gelbe Segel hinter ihm her flatterten.“
Das Mädchen war stehengeblieben und hörte Pippi mit offenem Mund zu. Und Thomas und Annika konnten nicht mehr weiteressen, sie waren vollauf damit beschäftigt, zuzuhören.
„Er hatte mehr Kinder, als er zählen konnte, und das kleinste hieß Peter“, sagte Pippi.
„Ja, aber ein Chinesenkind kann doch nicht Peter heißen“, wandte Thomas ein.
„Das hat seine Frau auch zu ihm gesagt. ,Ein Chinesenkind kann doch nicht Peter heißen‘, sagte sie. Aber Hai Shang war so furchtbar eigensinnig, und er sagte, das Kind solle entweder Peter heißen oder gar nicht. Und dann setzte er sich in eine Ecke und zog die Ohren über den Kopf und schmollte. Und da mußte seine arme Frau natürlich nachgeben, und das Kind bekam den Namen Peter.“
„Ach so“, sagte Annika.
„Ach so“, sagte auch Thomas.
„Das war das schwierigste Kind, das es in ganz Shanghai gab“, fuhr Pippi fort. „Nörglig mit dem Essen, so daß die Mutter ganz unglücklich war. Ihr wißt ja, daß man in China Schwalbennester ißt? Und da saß die Mutter mit einem ganzen Teller voller Schwalbennester und wollte ihn füttern. ,So, Peterlein‘, sagte sie, ,Jetzt essen wir ein Schwalbennest für Vater.‘ Aber Peter kniff bloß seinen Mund zusammen und schüttelte den Kopf. Schließlich wurde Hai Shang so böse, daß er sagte, Peter sollte kein anderes Essen kriegen, bevor er nicht ein Schwalbennest für den Vater gegessen hätte. Und wenn Hai Shang etwas gesagt hatte, so blieb es
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