Pirat des Herzens
ich!« In ihrem Überschwang umarmte sie die Äbtissin und stürmte hinaus.
Die Äbtissin setzte sich an ihren Schreibtisch und tauchte den Federkiel in ein Tintenfaß, ihr Gesicht von tiefen Sorgenfalten durchfurcht. Sie hätte nicht nachgeben dürfen. Doch dann wäre Katherine fortgelaufen, und das durfte sie nicht zulassen. Der Konvent war kein Gefängnis. Andererseits war die Welt draußen voller Gefahren und Tücken.
Es war nicht zu spät, um Katherine die Wahrheit zu sagen. Doch die Äbtissin wagte es nicht. Wie eine Marionette mußte sie ihren Herren gehorchen und auf eine höhere Macht vertrauen.
Seufzend beugte sich die Vorsteherin über das Pergament und begann in ihrer schönen Handschrift niederzuschreiben, was geschehen war und was Katherine vorhatte.
Juliets Vormund hatte sechs Getreue geschickt, um sein Mündel zu begleiten. Sie überbrachten einen knappen Brief, in dem Richard Hixley sein Mißfallen zum Ausdruck brachte, daß Katherine seine Nichte begleitete. Der Grund war klar: Juliet war eine reiche englische Erbin, und Katherine war Irin. Es war nicht das erste Mal, daß Katherine von Engländern herablassend behandelt wurde, die die Iren generell als unzivilisierte Wilde betrachteten.
Doch es zählte einzig und allein, daß sie endlich heimdurfte. Die letzten vier Wochen krochen im Schneckentempo dahin. Katherine konnte es kaum erwarten, das fruchtbare grüne Land und ihr Elternhaus wiederzusehen, Askeaton Castle, die mittelalterliche Trutzburg auf der Insel im Shannon.
Cherbourg lag nur wenige Reisestunden mit der Kutsche vom Kloster entfernt. Dort wartete ein kleines Handelsschiff, mit dem die jungen Damen den Ärmelkanal überqueren sollten. Im Hafen wurden die Mädchen rasch an Bord gebracht. Der Anführer der Soldaten, Sir William Redwood, befahl den jungen Damen, sich während der Überfahrt in ihrer Kabine aufzuhalten. Das Schiff würde bei Tagesanbruch Segel setzen und bei günstigem Wind noch am gleichen Abend Dover erreichen. Juliet bedankte sich artig, und dann waren die beiden Freundinnen allein in ihrer Kabine.
Katherine trat ans Bullauge. Die Abenddämmerung senkte sich über den Hafen. Ein einzelner Stern blinkte am Himmel. Sie bebte innerlich vor Erregung. Nach Hause. Bisher war es ein Traum gewesen. Bald würde ihr Traum Wirklichkeit werden. Sie stand an einem Neubeginn ihres Lebens und fieberte der glücklichen Zukunft entgegen, die sie erwartete.
Katherine fuhr mit einem Schrei aus dem Schlaf hoch. Sie hatte von bunten Frühlingswiesen in Munster geträumt. Hugh war am Leben und sie eine junge Braut. Sie blinzelte in das Sonnenlicht, das durch das Bullauge fiel. Es war heller Morgen, und weder sie noch Juliet hatten gehört, wie das Schiff ablegte. Wieso war sie so plötzlich aus dem Schlaf hochgeschreckt? Was bedeuteten die scharrenden Geräusche über ihrem Kopf? Und dann dröhnte ein ohrenbetäubender Donnerschlag. Eine Kanone. Katherines Herzschlag setzte aus. Sie flehte zum lieben Gott, zu Jesus, zur heiligen Maria, daß alles nur ein Alptraum war. Und dann folgte ein zweiter Donnerschlag, lauter, näher als der erste. Und sie wußte, das war kein Traum. Das Schiff wurde angegriffen. »Juliet!«
Sie rannte zum Bullauge. Die See lag glatt wie ein Spiegel in der gleißenden Wintersonne.
Der nächste Kanonenschuß donnerte. Über ihrem Kopf krachte splitterndes Holz, als würde ein Mast zerfetzt.
»Wir werden angegriffen«, schrie Katherine und wandte sich zu Juliet um, die kerzengerade und bleich wie der Tod auf ihrer Koje saß.
»Wer?« hauchte Juliet. »Wer greift unser Schiff an?«
Katherine versuchte, einen klaren Gedanken zu fassen. Juliet war eine reiche Erbin, sie selbst die Tochter des Grafen von Desmond. Die Küstengewässer vor Frankreich, Spanien, England und Irland wurden von Piraten unsicher gemacht, die es auf kostbare Fracht, auch auf menschliche Fracht abgesehen hatten. »Lieber Gott, erbarme dich unser!« flüsterte sie.
Juliet lief zum Bullauge und schlang ihre Arme um Katherine. Vom Deck über ihnen hörten sie Männerstimmen: »Piraten!«
»Es ist nichts zu sehen!« wimmerte Juliet und äugte über Katherines Schulter.
Der nächste Kanonenschuß brachte das Schiff gewaltig ins Schlingern. Die Mädchen wurden zu Boden geschleudert. Männer schrien durcheinander. Direkt über den Köpfen der verängstigten Mädchen krachte etwas donnernd auf die Planken.
Das Schiff ächzte und stöhnte wie ein verwundetes Tier. Musketen wurden abgefeuert.
Weitere Kostenlose Bücher