Piter - Wrotschek, S: Piter - Metro-Universum: Piter
die Klinge unter dem Handgelenk verborgen blieb. Als Waffe konnte man dieses windige Spielzeug kaum bezeichnen. Gar kein Vergleich mit seinem früheren Messer. Oder mit dem Khukuri des Oberführers. Damit hätte er sogar eine kleine Bestie erledigen können.
Der Unbekannte machte sich an Iwans Tasche zu schaffen. Offenbar suchte er etwas. Den Sinn des Lebens vielleicht, dachte Iwan sarkastisch. Oder etwas zu beißen.
Iwan schlich lautlos hinter den dreisten Unbekannten und ging in die Hocke. »Wer bist du?«
Zu Tode erschrocken fuhr der Unbekannte herum. Doch das Entsetzen, das zunächst in seinen großen runden Augen flackerte, erlosch alsbald und machte einem freudestrahlenden Lächeln Platz.
»Chef!«
Iwan richtete sich auf.
Unglaublich. Die Welt ist klein. Egal wohin es einen verschlägt, überall trifft man auf bekannte Gesichter.
»Was machst du denn hier?«
Vor ihm saß der Stationsmilizionär Mischa Kusnezow. Nur ohne seine Makarow. Dafür mit einem blau geschlagenen Auge. Erst jetzt fiel Iwan auf, dass Mischas Kleidung zerrissen war und seine Hände in Ketten lagen. Der Krieg schlug manchmal Kapriolen.
»Wo ist der Professor?«, erkundigte sich Iwan, der bereits ahnte, dass der junge Mann sein nächstes Problem sein würde.
»Weiß ich nicht«, antwortete Kusnezow. »Er ist mir … äh … weggelaufen.«
Das kommt davon, wenn man einem Dummkopf einen Auftrag erteilt.
Kusnezow hatte Wodjanik durch den Tunnel zur Gostinka begleitet. Zum Ärger des Professors. Mit Schimpfkanonaden hatte Wodjanik versucht, den ungebetenen Begleiter loszuwerden, doch Kusnezow hatte sich als ausgesprochen hartnäckig erwiesen und strikt darauf bestanden, seinen Auftrag auszuführen. So waren die beiden – mal streitend, mal schmollend – ihres Weges gegangen.
Kurz vor der Station Gostiny dwor hatte sich Wodjanik eine Unaufmerksamkeit des Milizionärs zunutze gemacht. Dieser hatte sich nur für einen Augenblick umgedreht, und schon war der Professor verschwunden gewesen. Wie vom Erdboden verschluckt. Auf der Suche nach dem Flüchtigen war Mischa durch diverse Schächte geirrt. Als er schließlich wieder in einem Tunnel herauskam, war ihm klar geworden, dass er sich heillos verlaufen hatte.
Daraufhin hatte er die erstbesten Händler nach dem Weg gefragt, und als er wieder zu sich kam, befand er sich bereits in Neuvenedig – in Ketten. Wie sich herausstellte, war er angeblich eine bestimmte Summe schuldig und konnte nicht zahlen.
Auf diese Weise war Mischa zum Sklaven geworden, oder zum »Schuldner«, wie man sich hier auszudrücken pflegte.
»Was machen wir jetzt, Chef?« Kusnezow sah Iwan fragend an. »Mein Herr wird mich schlagen, weil ich fortgelaufen bin.«
Wenn ich das nur wüsste, dachte Iwan. Womit habe ich das verdient? Was tun? Kusnezow hierlassen, zum Newski prospekt fahren, dort gewisse Dinge erledigen und wieder hierher zurückkehren? Oder soll ich ihm sagen: Tut mir leid, Mann, aber du musst dir schon selbst aus der Patsche helfen, wird ohnehin Zeit, dass du erwachsen wirst?
Das Knistern der Lautsprecher.
Tom Waits’ heisere Stimme.
Kossolapys Lieblingsmusik.
»Chef?«
In Kusnezows Stimme lag Verzweiflung.
Iwans Wangen pulsierten. Er rang mit sich.
»Warte hier auf mich, Mischa«, sagte er schließlich. »Ich komme bald zurück. Geh nicht weg.«
Kusnezow blinzelte hoffnungsfroh.
So läuft das bei uns mit der Erziehung der Grünschnäbel. Wir füttern sie mit Träumen. Sie setzen Fett an, werden leichter als Luft und fliegen über den Rand der Welt hinaus. Nach Australien, das von der Katastrophe verschont geblieben ist. Wir haben alle Gasmasken mit rosaroten Sichtscheiben auf.
Wo hätte Kusnezow auch hin sollen mit seinen Ketten?
Iwan machte auf dem Absatz kehrt und entfernte sich. Er wusste noch nicht, was er unternehmen würde. Irgendetwas würde ihm schon einfallen.
Verfluchte Siedlung. Verfluchte Metro. Verfluchtes Leben.
Auf seinem Irrweg über die Insel kam Iwan am Hauptankerplatz vorbei. Dort wurden gerade unter großem Hallo Fischkäfige entleert. Ein dicker Neuvenediger in einem bunt gestreiften Frotteemantel hob gerade seinen langstieligen Kescher aus dem Wasser. Im triefenden Netz zappelten die schwarzen, biegsamen Körper der Aale.
Kurz darauf beobachtete Iwan, wie ein hagerer junger Mann beim Herausheben des Keschers das Gleichgewicht verlor und auf den Rand des Stegs zuwankte. Sein Gesicht versteinerte, und selbst aus zehn Metern Entfernung konnte Iwan die Todesangst in
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