Piter - Wrotschek, S: Piter - Metro-Universum: Piter
das sehen«, giftete Wodjanik, »aber in der Regel sind die Hände dazu da, taktile Reize aufzunehmen.«
»Habe ich etwa was anderes behauptet?«, rechtfertigte sich der Oberführer.
Die Stimme des Skinheads schwebte irgendwo über Iwans Kopf. Ein Quecksilberfleck, der unter der Decke hing.
»Tasten Sie den Boden ab, Iwan. Michail, das gilt auch für Sie. Versuchen Sie, mit den Fingerspitzen zu sehen. Beschreiben Sie Ihre Eindrücke. Damit hätten wir schon eine zweite Reizquelle aktiviert. Und drittens …« Der Professor hielt kurz inne. »Lasst euren Gedanken freien Lauf. Wir haben hier optimale Bedingungen für Meditation. Religiöse Erfahrungen kann man nicht nur mit LSD oder violettem Staub herbeiführen.«
»Meinen Sie das im Ernst, Prof?«, fragte der Oberführer.
Seine Stimme wurde schwerer, verdichtete sich zu einem stromlinienförmigen Quecksilbertropfen und sank tiefer herab. Iwan spürte die Anwesenheit und Bewegung des Tropfens knapp über seinem Kopf, ein wenig in Richtung Wodjanik versetzt.
Der Professor war jetzt allerdings nur noch ein kleiner Elefant.
»Was sollen wir denn sonst tun?«, entgegnete Wodjanik. »Apropos! Wer kennt ein gutes Gedicht?«
»Ausgerechnet ein Gedicht?«, fragte Kusnezow verwundert. »Und wieso?«
»Reizentzug führt unweigerlich zu einer gehemmten Emotionalität. In diesem Zustand sehnt sich der Mensch zwar nach Zerstreuung, doch er kann sich nicht mehr dazu motivieren, Probleme anzupacken. Wir dürfen aber den Willen, uns zu wehren, unter keinen Umständen verlieren.«
Pause. Der Tropfen des Oberführers schwebte zum Professor hinüber, verharrte über ihm und betrachtete ihn.
»Wo er recht hat, hat er recht, der Prof«, verkündete der Oberführer. »Alle mal aufgepasst! Wer sagt das erste Gedicht auf?« Schweigen. »Gut. Dann fange ich an. Also – Rudyard Kipling: Die Hyänen.
Wenn der Bestattungs-Trupp das Schlachtfeld räumt
und die Geier die Segel streichen,
kommt der Hyänen Schar herbeigestreunt
und sucht nach vergrabenen Leichen.
Wie und warum sie zu Tode kamen,
das zählt nicht für die hungrige Meute.
Sie kümmert sich nicht um menschliche Dramen,
sondern nur ums Graben nach Beute. «
Der Oberführer rezitierte leise und ausdrucksvoll. Schon hatte Iwan die Hyänen vor Augen, wie sie mit geifernden Kiefern über den Todesstreifen trabten. Die herumliegenden Leichen waren von verkohlten Gummimänteln und Gasmasken verhüllt. In der Ferne stieg Rauch aus einem gigantischen Atomkrater.
»Einzig Fleisch ist der Hyänen Begehr
als gedeihlichen Lebens Quell.
Und sie wissen: Bei der Toten Verzehr
droht kein Unheil fürs eigene Fell.
Denn ein Bock schlüge aus, ein Insekt stäche zu,
selbst ein Kind würde aufbegehren.
Doch ein Soldat, gebettet zur ewigen Ruh,
erhebt nie mehr die Hand, sich zu wehren.
Nun heißt es wühlen, knurren und keifen,
bis die Zähne, die scharfen und weißen,
sich im Stoff des Armeehemds verbeißen
und den Toten aus der Grube reißen.
Noch einmal kommt dessen Antlitz ans Licht
im Schatten der zottigen Mähne,
doch lebende Menschen sehen es nicht,
nur Gott selbst und eben jene,
die seelenlos sind und frei von Scham
sich laben am Fleisch von Leichen,
des Toten Ehre rührn sie nicht an,
das ist Sache von seinesgleichen.«
Als der Oberführer geendet hatte, kehrte Stille ein. Iwan wusste im ersten Moment überhaupt nicht, wo er sich befand. Er sah immer noch diesen Todesstreifen und die Hyänenaugen, die im Mondlicht glänzten. Dabei hatte er noch nie Hyänen gesehen.
In der Tat, dachte Iwan, die Namen der Toten in den Schmutz zu ziehen, ist eine rein menschliche Gepflogenheit. Tiere sind anständiger.
Selbst die Bestien an der Oberfläche sind anständiger als Sasonow.
»Lasset uns beten, Brüder!«
Schon wieder diese Stimme in der Dunkelheit. Was soll das denn?! Nicht einmal schlafen lassen sie uns!
Iwan drehte sich auf die andere Seite und zog seine Jacke zurecht. Der nackte Betonboden strahlte lausige Kälte ab.
»Es gibt keine Hölle, weder im Himmel noch auf Erden«, fuhr die Stimme fort, »und auch kein Paradies. Geblieben ist nur das Fegefeuer, in dem die armen Seelen rastlos umherirren ohne Hoffnung auf Erlösung. Und der Name dieses Fegefeuers ist Metro. Amen.«
»Amen«, echote der Chor.
»Die Zeit wird kommen, Brüder. Der Gehörnte kommt näher und näher!«
Was für ein Gehörnter, zum Kuckuck?
In der Dunkelheit fiel es Iwan schwer, sich zu konzentrieren und seine Gedanken zu
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