Piter - Wrotschek, S: Piter - Metro-Universum: Piter
einen Menschen mit so grünen Augen gesehen zu haben.
»Iwan Sergejewitsch?«, sprach der Kastrat ihn an.
Seine hohe und auf eigenartige Weise entrückt wirkende Stimme ließ Iwan zusammenzucken.
»Ja, das bin ich.«
»Mein Name ist Mario Lanza«, sagte der Kastrat. »Ich muss mit Ihnen reden.«
»Worüber?« Iwan stand auf und streckte den Rücken durch.
»Über Ihren Vater, Iwan Sergejewitsch. Über Ihren richtigen Vater.«
Lanza und der Digger begaben sich in die Bahnsteighalle. War hier etwa ein Fest im Gange? Die Kastraten liefen geschäftig durcheinander und es herrschte ein Lärm wie an der Sadowaja-Sennaja , obwohl dort zehnmal so viele Menschen lebten.
Der Oberführer hat schon recht, dachte Iwan, sie benehmen sich wie Weiber.
Lanza führte den Digger in ein Dienstzimmer an der Stirnseite des Bahnsteigs. Der Raum war sauber und aufgeräumt, die Wände mit einer gedeckten Pastellfarbe gestrichen.
»Ich muss Sie einige Dinge fragen«, sagte Lanza, nachdem sie sich gesetzt hatten.
Iwan musterte den Kastraten. Wie ein Geheimdienstler sah Lanza nicht gerade aus.
»Weshalb?«
»Das hat mit meinem außergewöhnlichen Gedächtnis zu tun«, erläuterte Lanza. »Vielleicht haben Sie schon mal davon gehört, dass es Leute gibt, die sich an ihre Geburt erinnern können. Der Schriftsteller Lew Tolstoi – wenn Ihnen der Name etwas sagt – erinnerte sich zum Beispiel bis ins Detail an seine Taufe. Bei mir ist das noch wesentlich extremer. Ich kann mich auch an alles davor und danach erinnern. Mein Gehirn ist so strukturiert. Während Sie sich gewisse Dinge nicht merken können, ist es bei mir gerade umgekehrt: Ich kann nichts vergessen. Nicht einmal die grauenvollsten Einzelheiten. Ich bin sozusagen das wandelnde Gedächtnis meiner Generation, wenn Sie mir den etwas hochtrabenden Ausdruck erlauben. Und wie es der Zufall will, bin ich auch noch kastriert, was nach Meinung unserer Vorfahren meine Objektivität garantiert.«
»Sie sind tatsächlich objektiv?«, fragte Iwan.
Lanza schmunzelte.
»Nicht wirklich. Noch vor der Katastrophe äußerte jemand die Theorie, dass das menschliche Gedächtnis nur in Verbindung mit Emotionen funktioniert. Vielleicht ist das so. Ich persönlich bin jedenfalls ein durchaus emotionaler Mensch. Zu Ihrem Glück.«
Das muss sich erst noch erweisen, argwöhnte Iwan.
»Und aus diesem Grund sprechen Sie mit mir?«
»Der Rat hat mich gebeten, herauszufinden, ob Sie tatsächlich derjenige sind, für den Sie sich ausgeben.«
»Warum gerade Sie?«
»Erstens wegen meines außergewöhnlichen Gedächtnisses.«
»Und zweitens?«
Lanzas schmale Lippen formten ein Lächeln.
»Und zweitens, weil ich Saddam den Großen persönlich kannte.«
Iwan legte die Stirn in Falten.
»Na und? Was haben wir denn mit Saddam zu schaffen?«
Schweigen.
In der Ecke summte eine Fliege, setzte sich an die Wand und flog wieder auf.
»Wir vermuten, dass einer von Ihnen Saddams Sohn ist.«
Iwan blickte sich um. Außer ihm, Lanza und der Fliege war niemand im Raum.
»Also ich?«
»Durchaus möglich.«
Iwan versuchte sich darüber klar zu werden, was diese plötzlich gewonnene Berühmtheit für ihn bedeutete.
»Und was weiter? Werde ich jetzt … kastriert?«
Mario Lanza grinste.
»Wollen Sie das denn?«
Iwan überlief ein Schauer.
»Ehrlich gesagt nicht«, erwiderte Iwan. »Die Rolle als Mann ist mir – na ja – vertrauter. Aber Sie werden sich gewiss an ihm rächen wollen?«
»An Saddam dem Großen?« Lanzas dünne Augenbrauen wölbten sich weit in die Stirn. »Warum sollten wir? Ich glaube, Sie haben völlig falsche Vorstellungen, Iwan. Wir sind Saddam im Gegenteil sehr dankbar.«
Iwan kratzte sich das unrasierte Kinn.
»Meinen Sie das im Ernst?«
»Absolut.«
Plötzlich ertönte lautes, aber melodisches Glockengeläut. Lanza erhob sich.
»Kommen Sie, gleich beginnt das Fest.«
Ein bemerkenswert breitschultriger, hünenhafter Kastrat mit Händen wie Baggerschaufeln trat in die Mitte des Bahnsteigs und begann zu singen. Er war geschminkt und trug ein Abendkleid. Seine kräftige Frauenstimme schwang sich in immer neue Höhen und manche Töne hielt er eine Ewigkeit. Iwan fragte sich, wo er die Luft dazu hernahm.
»Eine Arie aus der Oper ›Tosca‹ von Puccini«, flüsterte Lanza.
»Was du nicht sagst«, kommentierte der Oberführer und gähnte zum wiederholten Mal.
Wenn er so weitermacht, wird er sich noch den Kiefer ausrenken, dachte Iwan.
Lanza grinste hinter vorgehaltener
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