Piter - Wrotschek, S: Piter - Metro-Universum: Piter
Hand.
Das Fest ging unterdessen weiter.
Die extrem hohen, durch Mark und Bein dringenden Stimmen der Sänger bereiteten Iwan schon nach zehn Minuten heftige Kopfschmerzen. Eine Stunde später hielt er dem Konzert nur noch mit eiserner Willenskraft stand. Man musste schon ein passionierter Opernliebhaber sein, um hier leben zu können. Die Station der Engel – nun gut. Trotzdem wäre es Iwan lieber gewesen, wenn die Engel geschwiegen hätten.
Im Anschluss traten die Ältesten der Kastraten auf. Doch auch diese Folter ging schließlich zu Ende.
»Kommen Sie mit«, flüsterte Lanza und fasste Iwan an der Schulter.
Sie standen auf und begaben sich zum Tisch der Ältesten.
»Iwan Gorelow, Saddams Sohn«, stellte Mario Lanza ihn vor.
»Guten Tag«, sagte Iwan und nickte verlegen.
Der Ältestenrat bestand aus fünf Kastraten. So richtig alt waren sie allerdings nicht, höchstens im Vergleich zu Mischa Kusnezow. Iwan schätzte sie auf Anfang zwanzig. In ihrer Mitte saß ein fülliger, stark geschminkter Kastrat, offenbar der Oberste des Rats. Er trug ein weites Gewand, das eine Schulter freiließ. Im Vergleich zu dem strammen Lanza sah er extrem weiblich aus. Auch der Oberste hatte zuvor eine Arie zum Besten gegeben, doch Iwan konnte sich beim besten Willen nicht erinnern, welche.
»Sie sehen Ihrem Vater ähnlich«, sagte der Oberste.
»Vielen Dank«, erwiderte Iwan.
»Wir haben Ihrem Vater viel zu verdanken. Sicher gibt es Leute, die erpicht darauf wären, an Saddams Sohn Rache zu nehmen. Aber zu diesen Leuten gehören wir nicht. Wir feiern mit diesem Fest unsere Freiheit.«
»Wie darf ich das verstehen?«
Die Ältesten sahen einander an.
»Saddam hat uns zu dem gemacht, was wir sind«, antwortete schließlich der Oberste. »Zu freien Menschen, die nicht Sklaven einer zügellosen, animalischen Lust sind. Verstehen Sie? Wir sind dadurch bessere Menschen geworden. Wir hegen keinerlei Rachegedanken, im Gegenteil, Sie haben unseren Respekt und unsere Hochachtung.«
»Ich muss nach Hause«, sagte Iwan mit Nachdruck. »Unbedingt.«
»Das verstehe ich«, sagte der Oberste. »Wir hätten es begrüßt, Sie länger hierzubehalten, doch wir respektieren selbstverständlich den Wunsch von Saddams Sohn.«
»Vielen Dank«, sagte Iwan. »Das hier war …« Er stockte und suchte nach dem richtigen Wort. »Es war großartig.«
Der Oberste nickte zufrieden. Offenbar hatte Iwan den richtigen Ton getroffen. Lanza fasste ihn am Ellenbogen und führte ihn zurück zu den Zuschauerreihen.
»Was war das?«, fragte Iwan.
»Großmut.« Lanza wurde auf einmal ernst. »Sie haben uns die Möglichkeit gegeben, Großmut zu zeigen, Iwan. Manchmal genügt das. Aber jetzt geht unser Fest weiter!«
Iwan seufzte innerlich.
»Warum haben Sie so einen seltsamen Namen?«, fragte Iwan.
»Er ist nicht seltsam. Es ist der Name eines berühmten Tenors, der vor der Katastrophe Karriere machte. Wir haben hier zum Beispiel auch einen Caruso, einen Pavarotti, einen Robertino Loretti und sogar einen Muslim Magomajew – obwohl das für meinen Geschmack etwas unpassend ist, denn er war schließlich ein Bariton. Als wir unsere Gemeinschaft hier gründeten, durfte sich jeder den Namen eines berühmten Sängers der Vergangenheit aussuchen.«
Lanza musterte Iwan, und um seine Mundwinkel spielte ein souveränes Lächeln.
Der weiß Bescheid, ahnte Iwan. Er vergisst nichts und hat ein fotografisches Gedächtnis.
»Ich bin nicht Saddams Sohn«, sagte Iwan. »Und Sie wussten das von Anfang an, nicht wahr?«
Der Kastrat nickte.
»Natürlich wusste ich es.« Seine hohe, kristallklare Stimme klang eigenartig – ihr Timbre lag irgendwo in der Mitte zwischen einer Frauen- und einer Kinderstimme. »Aber Sie wären … sagen wir, ein passender Kandidat für diese Rolle gewesen. Außerdem fürchte ich, dass Sie selbst über einiges nicht im Bilde sind. Als ich Sie damals traf, waren Sie ein kleiner Junge. Ich war sechs und Sie ein bisschen älter, vielleicht sieben oder acht. Vielleicht kannte ich auch Ihren Vater. Da Sie damals dort waren, gehörte sicher auch Ihr Vater zum engeren Bekanntenkreis von Saddam dem Großen.«
Iwan sah auf.
»Wie hieß er? Ich meine …« Der Digger zögerte und sprach es dennoch aus. »Mein Vater.«
»Ich weiß nicht, wer von diesen Leuten Ihr Vater war«, antwortete Lanza. »Es tut mir leid.«
»Tja …« Iwan rang sich ein Lächeln ab. »Da kann man nichts machen.«
Wozu brauche ich überhaupt diesen Vater?
Iwan fuhr sich
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