Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Piter - Wrotschek, S: Piter - Metro-Universum: Piter

Piter - Wrotschek, S: Piter - Metro-Universum: Piter

Titel: Piter - Wrotschek, S: Piter - Metro-Universum: Piter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Schimun Wrotschek
Vom Netzwerk:
Feinden nicht wünschen.
    »Aber, aber«, empörte sich der Oberführer. »Hört schön zu, meine Kinder, und lernt was fürs Leben. Und du schreibst brav mit, Mann. Also. Das russische Volk, Punkt a, mag keine Ausländer. Punkt b, weil es Angst vor ihnen hat. Wobei Punkt b nicht ganz korrekt ist. Das russische Volk hat nämlich nicht vor den Ausländern Angst, sondern vor sich selbst. Besser gesagt, es befürchtet, dass es sich nicht mehr wehren kann. Was auch kein Wunder ist nach all den Erniedrigungen, die die Leute ertragen mussten. Jahrzehntelang hat man sie mal in die eine, mal in die andere Richtung gebogen, sie in die Nieren getreten und ihnen die Knochen gebrochen, sie auf die Knie gezwungen und ihnen eingebläut, zu fressen, wenn das Glöckchen klingelt. Und genau aus diesem Grund haben sie solche Angst vor Fremden. Wer weiß schon, ob diese Fremden die Güte des russischen Volks nicht als Schwäche auslegen und seine Gastfreundschaft als Einladung zu schamlosem Schmarotzertum? Die Dummheit und die Niedertracht der Obrigkeit, die ewigen Prügel und die Vertreibung der Besten haben Spuren hinterlassen. Wenn ein ganzes Volk sein seelisches Gleichgewicht verloren hat und einen latenten Minderwertigkeitskomplex mit sich herumschleppt, dann ist es doch kein Wunder, dass es Bedrohungen sieht, wo vielleicht gar keine sind, und entsprechend überreagiert. Daraus resultieren ein übersteigertes Nationalgefühl, chronischer Argwohn und eine kategorische Abwehrhaltung gegenüber allem Fremden. Darin, meine Herrschaften, liegt das fatale Paradox des russischen Volkes, das nun ein Volk der Arche geworden ist. Denn gerettet haben wir uns zusammen mit Reptilien, Hühnern und sonstigem Getier …«
    »Mit Meerschweinchen zum Beispiel«, ergänzte Iwan mit beißender Ironie.
    »Mit denen auch«, pflichtete der Oberführer bei.
    »Sag mal, Ober, wie kommt es eigentlich, dass du so klug bist?«, fragte Iwan.
    »Das willst du wirklich wissen?«
    Der Skinhead setzte sich auf. Iwan bemerkte zu spät, welche Steilvorlage er ihm mit seiner Frage geliefert hatte.
    »Ich kann mich natürlich nicht mehr an alles erinnern«, sagte der Skinhead, lehnte sich wieder zurück und schob die Hände unter den Kopf. »Doch wie es sich gehört, beginne ich einfach mal ganz von vorn. Geboren wurde ich als Sohn ehrbarer Eltern in einem abgeschiedenen und idyllischen Landgut desGouvernements N…«
    »Bring ihn doch bitte einer zum Schweigen«, bat Wodjanik entnervt.
    »… und starb in meiner fernen Kindheit«, endete der Oberführer und grinste. »Aber eigentlich wollte ich darauf hinaus, dass mir so einiges wieder eingefallen ist, während wir am Proswet in der Scheiße saßen. Iwan, du hattest mich doch gefragt, wie es mich nach Neuvenedig verschlagen hat.«
    Iwan horchte auf.
    »Ja, das habe ich in der Tat.«
    »Meine Erinnerung daran ist immer noch lückenhaft. Leider. Es beginnt mit dem Kampf um die Wosstanija . Dann folgt eine Gedächtnislücke, und als Nächstes befinde ich mich bereits in der Hand der Moskowiter. Und bei denen war es überhaupt nicht lustig.«
    »Sie haben dich gefoltert«, sagte Iwan.
    Der Oberführer betrachtete seine verstümmelten Fingerspitzen.
    »Sieht so aus. Danach laufe ich durch irgendeinen Tunnel, zusammen mit einigen anderen Leuten, vermutlich auch Gefangene. Es muss eine verzweifelte Flucht gewesen sein. Wie sie endete, weiß ich nicht mehr. Das Nächste, woran ich mich erinnere, ist dann schon Neuvenedig, wo ich irgendwelches Zeug getrunken habe, das fürchterlich nach Aceton stank. Und dann kommt schon der rasante Krimi mit dir in der Hauptrolle. Wie findest du übrigens die Handlung? Spannend, oder?«
    Iwan winkte ab.
    »Woran kannst du dich noch erinnern?«
    »An mein nepalesisches Khukuri-Messer. Besser gesagt daran, wo es abgeblieben ist. Bei den Moskowitern war so ein Typ …« Der Oberführer grinste schief, legte sich bäuchlings auf die Pritsche und bettete den Kopf auf den Unterarmen. »Egal, das ist eine persönliche Angelegenheit. Weckt mich auf, wenn es mit dem Kastrieren losgeht, okay?«
    »Geht klar«, erwiderte der Digger.
    Als Iwan gerade dabei war, einzunicken, öffnete sich die Tür. Auf der Schwelle stand ein hoch aufgeschossener Mensch. Ein Kastrat, präzisierte Iwan in Gedanken, so als würde dies die menschliche Natur des Ankömmlings infrage stellen. Er hatte feine Gesichtszüge und eine sehr glatte, blasse Haut. Seine Augen waren knallgrün. Iwan konnte sich nicht erinnern, jemals

Weitere Kostenlose Bücher