Piter - Wrotschek, S: Piter - Metro-Universum: Piter
zu sticheln, »mit einem leichten Anflug von Anarchie.« Jeder andere hätte mit so einem Statement erheblichen Ärger riskiert. Der Professor konnte es sich erlauben.
Ein Kastensystem plus ein vom Volk gewählter Feudalherr. Dazu die erbliche Weitergabe gesellschaftlicher Pflichten. Im mittelalterlichen Japan wurde der Sohn eines Schauspielers ebenfalls Schauspieler und erbte dabei nicht den Beruf an sich, sondern eine konkrete Rolle, erzählte Wodjanik. Jeder von uns spielt seine Rolle, sei es als Bauer, Milizionär oder Digger. Und das Theaterstück »Wassileostrowskaja« geht immer weiter.
»Und?« Postyschews schon von Natur aus nicht eben heiterer Blick lastete tonnenschwer und bekam einen gefährlichen, bleiernen Glanz.
»Nebukadnezar, König von Babylon, eroberte Jerusalem, doch er unterwies auch den Propheten Jeremia. Weiter. Belsazar war auch König von Babylon. Als er einmal mit einem rauschenden Fest einen Sieg feierte, erschien an der Wand seines Palasts eine geisterhafte Schrift, die ihm prophezeite, dass seine Herrschaft in dreißig Tagen zu Ende gehen werde. Mene mene tekel u-parsin … Gewogen wardst du auf der Waage und zu leicht befunden.«
Postyschew hörte geduldig zu, doch es war ihm anzumerken, dass er nur Bahnhof verstand. Sein ganzes Äußeres schien zu sagen: Mann, komm endlich zur Sache!
»Und?«, warf diesmal Iwan ungeduldig ein.
»Nur die Ruhe, Wanja«, erwiderte der Professor und hob beschwichtigend die Hand. »Ich erkläre es gleich. Der Dieselgenerator, den wir jetzt nicht mehr haben, bedeutete für uns das Goldene Zeitalter. Ich fürchte, es ist heute zu Ende gegangen. Und dieses Zeichen hier auf dem Boden ist eine verschlüsselte Botschaft. König Nebukadnezar wurde dadurch berühmt, dass er das judäische Königreich zerstörte und den Juden dadurch zu verstehen gab: Ihr seid auf dem falschen Weg. Die Geschichte von Belsazar ist ohnehin klar. In beiden Fällen geht es um eine göttliche Botschaft. Es ist ein religiöses Moment im Spiel. Derjenige, der unseren Generator geraubt hat, ist offensichtlich mit dem Alten Testament vertraut und hegt den Glauben, dass er eine heilige Mission erfüllt. Tja …« – der Professor kratzte sich am Bart – »die Warnung haben wir vernommen. Aber was nun?«
»Ja sind wir denn jetzt Juden oder wie?«, fragte Iwan. Es war das Originellste, was ihm in diesem Augenblick einfiel.
»Wanja!«
»Ich bin ja schon still.«
»Mit anderen Worten«, resümierte Postyschew, »wir haben es mit … ja mit wem eigentlich zu tun?«
»Jedenfalls nicht mit Kommunisten«, erwiderte Wodjanik lapidar.
»Vielleicht sind die Japaner ja auch noch am Leben – wenn Japan nicht von einem Tsunami weggespült wurde«, spekulierte der Admiralze. »Die haben doch eine viel bessere Metro als wir. Ich weiß nur nicht, ob sie für einen Atomkrieg ausgelegt ist. Die Metro in Tokio zum Beispiel ist riesig, gar kein Vergleich mit der Moskauer. Zweihundert oder dreihundert Stationen, könnt ihr euch das vorstellen? Vielleicht leben die Schlitzaugen ja immer noch unter der Erde. Und eine geniale Technik hatten die – da ist die Technoloschka gar nichts dagegen.« Der Admiralze überlegte einen Augenblick. »Aber wer weiß, vielleicht sind sie schon längst abgesoffen. Das geht schnell bei denen in Japan.«
»Wie bei uns auch«, kommentierte Sasonow und grinste.
Was soll man auch machen, wenn man nur von Idioten umgeben ist. Wir fragen nach dem Generator, und der Typ labert uns über Japan voll. Toll. Einfach toll.
Über dem Kontrollposten der Admiraltejskaja lastete eine feuchte, tintenschwarze Dunkelheit, die von den Strahlen zweier Mega-Scheinwerfer wie Käse durchschnitten wurde.
Die Admiraltejskaja musste eine ziemlich reiche Station sein, wenn sie sich hier solche Scheinwerfer leisten konnten. Die Admiralzen waren in letzter Zeit ohnehin auf dem aufsteigenden Ast, was man von der Waska nicht gerade behaupten konnte. Obwohl man ja eigentlich derselben Allianz angehörte. Aber schau schau …
Die Karbidlampe verströmte mildes, gelbes Licht. Die Vorstellung, wieder aufzustehen und durch die feuchte Finsternis des Tunnels zu stapfen, fand Sasonow alles andere als verlockend.
Er hätte ewig sitzen bleiben und sich Geschichten über die Tokioter Metro anhören können. Und aufs Wasser schauen.
Der Tunnel führte hier in einem Winkel von vierzig Strich nach unten, machte dann einen Knick und verlief praktisch horizontal bis zur Admiraltejskaja sowie ein Stück
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