Piter - Wrotschek, S: Piter - Metro-Universum: Piter
Kampf«, sagte Jewpat und sah auf. »Hallo, Iwan! Na,mordwinische Helden, zeigen wir dem Jungvolk, wie wir es zu unserer Zeit krachen ließen?« Er blickte sich um. »Warum seid ihr so still? Ich höre nichts!«
Iwan schaute. Doch hinter dem Rücken seines Onkels war niemand. Nur ein weißer, an einer rostigen Fahnenstange befestigter Lappen flatterte im Wind. Onkel Jewpats Einsamkeitsflagge. Der ehemalige Wartungsstützpunkt war sein selbst gewähltes Exil. Selbst sein Neffe besuchte ihn hier nicht allzu oft, genauer gesagt: ziemlich selten.
Manchmal hatte Iwan den Eindruck, sein Onkel sei ein bisschen verrückt. Vielleicht auch nicht nur ein bisschen. Aber jeder hat schließlich Fehler.
»Hallo, Onkel!« Iwan ließ sich erschöpft auf einer geborstenen Kabeltrommel nieder. »Ich bleibe ein paar Minuten bei dir sitzen, in Ordnung?«
»Tu das. Ich habe nicht vor, dich zu vertreiben.«
Onkel Jewpat gähnte geräuschvoll und kratzte sich am Ohr. Beide schwiegen. Von der Decke lösten sich Wassertropfen, einer nach dem anderen, und fielen in eine Blechwanne. Die Spritzer trommelten gegen die verzinkte Wandung. Die Karbidlampe verströmte behagliches Licht, und über ihrer Flamme stand ein rußiger Topf, in dem das Wasser bereits zu sieden begann – bald würde der Tee fertig sein. Eine unterirdische Idylle. Onkel Jewpat nahm seine Brille aus dem Etui, setzte sie sich auf die Nase (die Plastikbügel waren mit Klebeband umwickelt) und musterte den Neffen durch die Gläser.
»Geht’s dir nicht gut, Iwan?«, erkundigte er sich.
Iwan zuckte mit den Achseln. Es hätte ihm auch schlechter gehen können.
»Doch, doch. Geht schon.«
Der Onkel nickte. »Verstehe. Gleich kocht das Wasser …«
Iwan wärmte sich die Hände an der verbeulten Blechtasse und hörte dem Geschwätz seines Onkels zu. Jewpat war sein einziger noch lebender Verwandter, ein entfernter zwar, aber immerhin.
Manchmal tat es not, die Gesellschaft der Frauen und der Männer zu verlassen, um einem hässlichen alten Mann zuzuhören.
»Kennst du die Geschichte mit den Engeln?«, fragte Jewpat. »Nein? Dann hör gut zu und dir wird einiges klar werden über die Geschehnisse in der Metro. Die Geschichte handelt von einem folgenschweren Fehler, den Saddam der Große beging, schon mal gehört? Damals waren die Metrostationen so übervölkert, dass eine Hungersnot drohte, wenn man nichts unternahm. Die Leute hatten alles Mögliche mit in die Metro genommen, aber an Präser hatte niemand gedacht.
Da ließ Saddam der Große die Kinder einer Station – ich glaube, es war die Jelisarowskaja – zusammenbringen und führte sie vorgeblich zum Schulunterricht in einen abgelegenen toten Tunnel, weil sie dort angeblich vor den Ratten geschützt waren. Dort wurden die Kinder betäubt und entsprechend präpariert. Ausnahmslos Jungs. Einige starben sogar bei der Prozedur. Als die Mütter bemerkten, was geschehen war, zettelten sie einen Aufstand an. Wie bei Nero, der sich als Gott aufspielte. Es waren die Frauen, die Saddam vom Thron stießen, niemand sonst. Sie rissen ihn förmlich in Stücke. Seine Wache versuchte, sie mit Schüssen zu vertreiben – lächerlich! Als ob man Weiber aufhalten könnte.
So endete Saddams Herrschaft. Doch wie sollte es weitergehen?
Die Kinder waren verstümmelt. Man unterrichtete sie in Gesang. Kastraten. Lauter kleine Farinellis, Scheiße. Einer besser als der andere.
Die singen übrigens immer noch. Ich habe das schon mal gehört. Kannst du dir das vorstellen, Iwan? Da kriegst du eine Gänsehaut. Als würde der ganze Tunnel vibrieren. Reine, kraftvolle Stimmen, kristallklar. Sie singen wie Engel.«
Onkel Jewpat verstummte für einen Moment und rückte den Topf zurecht.
»Es gibt Leute, die behaupten, dass es Saddam gar nicht um die Geburtenrate gegangen ist. Sondern um den Himmel auf Erden. Und für diesen Himmel hat er die Engel gebraucht.«
»Wie soll ich das verstehen?« Iwan stutzte.
»Wie ich es sage, Neffe«, erwiderte Jewpat grinsend. »Saddam hat Engel gemacht und keine Krüppel. Er hat’s gut gemeint, der komische Vogel. Doch niemand hat ihn verstanden. Das ist überhaupt ein Grundproblem der Menschheit, findest du nicht?«
Iwan schwieg.
»Und was ist aus der Station geworden?«, fragte er schließlich. »Aus der Jelisarowskaja ?«
»Wieso, was soll aus der geworden sein?« Jewpat zog verwundert die Brauen hoch.
»Na, nach alledem … Ist sie nicht ausgestorben?«
»Wie kommst du denn darauf?« Der Onkel
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