Pittys Blues
Irgendetwas hielt ihn. Also blieb er.«Ich heiße Dick.»
«Pitty.»
Pitty dachte, dass sich der erste Tag ihres neuen Lebens sehr zufriedenstellend entwickelte.
Und so saßen die beiden am Strand nördlich von Tulipes Sugarclub und schauten dem fallenden Schnee zu, wie er das Wasser berührte, sie sahen den Schnee, der sich auf dem Boden sammelte, und hielten sich bei den Händen.
«Das ist das erste Mal in meinem Leben, dass ich Schnee sehe», sagte Dick und wedelte mit einem Zweig sachte über der Wasseroberfläche. Kleine Kreise zogen aus einem Tropfen neue Kraft und wurden zu schwappenden kleinen Wellen, die sich im Sand verliefen.
«Ich habe auch noch nie Schnee gesehen.»Pittys Blick folgte dem Ast. Sie beugte sich vor und berührte mit ihrem Zeh das Wasser, störte die Kreise, die Dicks Zweig auslöste.«Es sind immer die Regentropfen. Ich
meine die dicken, die, die laufen. Die kleinen Tropfen, die auf der Glasscheibe stehen bleiben, die guckt niemand an. Aber die, die groß werden und fließen, die beobachten alle.»
Dick nickte. Er dachte daran, dass er und Pitty und noch so viele andere Menschen eben diese kleinen Regentropfen waren, und fand das gar nicht schlimm.
Jedenfalls waren sie bisher immer die kleinen Tropfen gewesen, und er hatte es im Gefühl, dass sie beide mit jeder Minute für Rickville immer größer wurden, anfingen, die Scheibe entlangzufließen und die Blicke auf sich zu ziehen.
Aber vielleicht empfand Dick das auch nur so, weil Pitty für ihn und in ihm immer größer wurde und er dachte, alle müssten es sehen - auch sie.
Jones hat Moe später erzählt, wie er sich selbst am Kragen packen musste, weil nur er und sonst keiner seinen alten Körper nach Hause bugsieren konnte.
Wie er seinen Hintern aus dem Sugarclub ins Freie schob und den Blick nach oben richtete. Die Wolken hingen so tief, er schien sie berühren zu können, ohne sich strecken zu müssen. Das fehlende Licht ließ ihn die Schultern hochziehen, sich kurz schütteln und seine Jacke zuknöpfen.
Er hatte vergessen, was er eigentlich vorgehabt hatte, es wollte ihm nicht mehr einfallen. Aber Jones interessierte sich auch nicht mehr wirklich dafür, was sein normaler Tagesablauf war.
Ab und an hatte er seine Phasen, in denen er sich zu
Hause einschloss, den Kamin feuerte, mit einem Glas Whiskey in seinem alten Sessel davorsaß und immer mal wieder einen herzerweichenden Seufzer losließ. Dann wurde sein Blick glasig, und es sammelten sich ein paar Tränen. Und je verlassener Jones dann wirkte, umso fester wollte man ihn in die Arme schließen.
Aber fürs Erste war er noch nicht zu Hause. Er stand im Schnee und warf einen Blick hinter sich. Seine eigenen Fußspuren zeigten ihm den Weg zurück zu Tulipe und Moe, aber sie verliefen nicht zielstrebig, sondern wie Schlangenlinien, als wäre Jones schon in dem Zustand, in dem sich jeder anständige Rickviller normalerweise erst nachts auf dem Heimweg befand.
Jones wurde immer kleiner, beugte sich vor und sackte kurzerhand in den Schnee. Während er mit seinen großen Händen den Schnee aufschaufelte und sich ins Gesicht drückte, startete ein Schwarm Wildgänse auf dem Wasser des Flusses, und ihr Schnattern und ihr Flügelschlag waren das Einzige, was noch zu hören war in dem taub gewordenen Landstrich.
Dieser Schnee machte etwas mit uns. Wir begegneten längst Vergessenem, Verdrängtem, Verlorenem. Die dicht fallenden Flocken brachten die Augen dazu zu sehen, wo es nichts zu sehen gab. Die Eiskristalle legten sich auf die Linsen, zerkratzten den Blick und ließen Erinnerung und Gegenwart verschwimmen.
Man sah Dinge, die nicht sein konnten.
Jones war da keine Ausnahme. Er hockte im Schnee und starrte in die Landschaft.
Und nachdem er sich wieder hochgehievt hatte,
tauchte er nur noch tiefer in den Schnee, tiefer in den Matsch, tiefer in das, was einmal war.
Es hatte Gerüchte gegeben, schon damals, dass Jones mehr als nur ein guter Freund von Dicks Mutter sei.
Dick war noch ein kleines Kind, und sein Vater Gene kam nur noch sporadisch mal auf«Heimaturlaub», wie er es nannte, von seinen Gefechten mit Weibern und deren Männern und überließ es ihr, sich dem zu stellen, was Leben hieß. Jones half ihr dabei, und aus Hilfe wurde Liebe. Wenn sie sich nur früher für Jones entschieden hätte, bevor sie Gene geheiratet hatte. Er hätte es nicht ertragen, wenn sie geweint hätte, wenn er der Grund gewesen wäre. Aber so konnte er nur zusehen und versuchen, das
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