Plage der Finsternis - Keohane, D: Plage der Finsternis
Minuten oder zehn Stunden ereignet haben. Nein, so lange doch nicht. Seit sie ins Wohnzimmer zurückgekehrt waren, ächzte und stöhnte das Haus wie ein aufs Meer hinaustreibendes Schiff, schien drauf und dran, jeden Augenblick auseinanderzufallen. Alle saßen da, sahen sich um und warteten wohl darauf, dass der Hammer zuschlug, vermutete er. Darauf, dass die Finsternis zurückkehrte. Bislang hatte sie sich nicht über die Küche hinaus ausgebreitet, aber diese Geräusche ... Es war, als füllten sich die Wände damit und drohten zu zerbersten.
Seyha stand hinter Bills Sessel an derselben Position, die sie eingenommen hatte, nachdem sie aus dem Flur gekommen waren. Er hatte den Versuch aufgeben, sie zu überreden, sich hinzusetzen. Ihre Hand ruhte leicht auf seiner Schulter. Bill griff nach oben, um sie zu halten. Ihre Finger schlossen sich über die seinen.
Joyce schaute auf und starrte Seyha lange an.
Schließlich sagte sie in sanftem Tonfall: »Seyha, ich will Sie nicht bedrängen, aber ich würde gerne alles – wirklich alles – darüber hören, was Sie gesehen haben.« Während sie sprach, blickte die Geistliche nach links und rechts, als fragte sie sich, ob ihre Stimme den Ausschlag zum Einsturz der Wände geben könnte.
Seyhas Finger versteiften sich um jene Bills. Joyce musste es aufgefallen sein, denn sie hob eine Hand. »Na schön. Sie müssen nicht in die Einzelheiten gehen, wenn es Sie zu sehr aufregt. Aber eigentlich hat es das bereits getan.«
Zu Bills Überraschung erwiderte Seyha: »Ja.« Ihre Stimme klang belegt, und die Hand, die er hielt, zitterte ein wenig. »Ja, es ist sehr verstörend für mich. Ich habe meine gesamte ...« Sie verstummte, holte tief Luft und blies sie aus.
Bill spürte, wie sich sein Körper anspannte. Bleib ruhig , dachte er bei sich und hoffte, Joyce würde sie nicht bedrängen. Wenn Seyha ihnen je etwas erzählen würde, dann jetzt oder nie. Ein Teil von ihm, ein dunklerer Teil, der zunehmend in seinem Verstand Fuß zu fassen schien, fragte sich, ob es überhaupt noch eine Rolle spielte. Unwillkürlich ging ihm durch den Kopf, was Gem gesagt hatte – dass sie vielleicht alle bereits tot waren. Er schloss die Augen und konzentrierte sich auf seine Frau, nur auf sie.
Es wäre einfach gewesen, erneut aggressiv zu werden, ins Schlafzimmer zu rennen und sich hinter denselben Mauern zu verstecken, die zu bauen sie mittlerweile so gut beherrschte. Hinter den Mauern fühlte sie sich sicher und sogar glücklich, wenn sie nicht zu viel nachdachte. Aber alles löste sich auf, wurde von diesem Gefängnis in seine Teile zerlegt. Das Haus schloss sich enger um sie, nahm ihnen die Zufluchtsorte. Wie lange würde es dauern, bis nur noch der kleine Teppichstreifen im Wohnzimmer übrig sein würde?
Und Joyce ließ nicht locker. In den Visionen der anderen sah Seyha wenig Sinn. Allein jene Bills hörte sich gefährlich mit der ihren verbunden an, wenngleich er dies nicht wusste. Seine Geschichte bot den Beweis, dass etwas oder jemand versuchte, den Schleier zu heben, sie dazu zu zwingen, indem stückchenweise Geheimnisse preisgegeben wurden. Erneut dachte sie an die unversperrte Schrankschublade. Manche Geheimnisse mussten verborgen bleiben, zumal sie mehr Schmerz verursachen würden, als das vage Konzept der Wahrheit rechtfertigen könnte.
Alle warteten. Wenn sie behutsam vorginge, könnte sie ihnen lediglich einen Knochen zuwerfen, ihnen ein klein wenig offenbaren. Was immer diese Welt kontrollierte, würde das vermutlich ohnehin tun. Sie musste die Kontrolle auf ihre Weise behalten.
»Ich war am Rand einer Straße«, begann sie, ehe sie erneut verstummte. Ihre Kehle fühlte sich trocken an. Sie leckte sich über die Lippen. Allein dadurch, dass sie sprach, fühlte sie sich zu ungeschützt. Behutsam legte sie die freie Hand an Bills Hinterkopf. Die andere hielt er weiter fest, aber er drehte sich nicht um. Bill war ein guter Mensch; er wollte nicht, dass sie sich zu sehr im Mittelpunkt fühlte. Nein, Bill war perfekt. Sie hatte gesündigt – sündigte immer noch –, und zwar gegen ihn. Verdräng es , durchzuckte es sie.
»Ich war am Rand einer Straße«, wiederholte sie, »in Kambodscha.« Stocksteif stand sie da, nur ihre Lippen bewegten sich. »An dem Tag, an dem meine Mutter von den Roten Khmer getötet wurde, weil sie sich geweigert hatte, sie meine Schwestern mitnehmen zu lassen.« Ihre Stimme hörte sich überraschend kräftig an. Noch nie zuvor in ihrem Leben hatte sie
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