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Plage der Finsternis - Keohane, D: Plage der Finsternis

Titel: Plage der Finsternis - Keohane, D: Plage der Finsternis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Daniel G. Keohane
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Mädchen nicht mögen wollte, sie gelangte zu dem Schluss, dass Gem vermutlich doch nicht so übel war.
    »Jedenfalls«, fuhr sie fort, blickte zu Bill und wandte sich rasch von dem Mitleid in seinen Zügen ab, starrte auf ihren Schoß hinab, »haben sie die anderen Mädchen mitgenommen. Wohin, weiß ich nicht. Danach hieß es den ganzen Tag marschieren, immer an irgendjemandes Hand. Ich glaube, es waren verschiedene Leute. Keine Ahnung, ob es meine Tanten oder bloß irgendwelche Dorfbewohner waren. Ich weiß nicht einmal mehr, wie viele Tage es so ging.«
    »Wohin hat man Sie gebracht?«, fragte Joyce.
    »Auch das weiß ich nicht mehr«, log Seyha. Aufgrund der plötzlichen Anspannung der Hand auf ihrer Schulter folgerte sie, dass Bill Bescheid wusste. Im Lauf der Jahre hatte er viel über ihr Heimatland recherchiert, bis sie darauf bestand, dass er damit aufhören sollte. Mittlerweile wusste Bill wahrscheinlich mehr als sie selbst. Vor Jahren, nachdem sie gelernt hatte, Englisch zu lesen, und sich in der Sicherheit der Saint-Margaret-Schule am Stadtrand von Boston befunden hatte, nur rund sechzig Meilen von ihrem nunmehrigen Wohnort entfernt, hatte sie selbst recherchiert. Damals war sie dreizehn, vierzehn Jahre alt gewesen. Der Geruch schimmliger Seiten und die tiefe Stille der kleinen Bibliothek hatten sich nachhaltig in ihr Gedächtnis eingebrannt. Allein an einem langen Tisch hatte Seyha ein neu eingetroffenes Buch durchgeblättert, frisch in Plastik foliert. Ein Buch über ihre Heimat; bis zu jenem schrecklichen Tag in der Bibliothek hatte ›Heimat‹ für sie noch Kambodscha bedeutet. Sie hatte über die Todesmärsche gelesen, die Fotos gesehen. Seyha wusste noch, dass sie fasziniert davon gewesen war und einige der Ereignisse und Orte sogar erkannt hatte – ob aus dem Gedächtnis oder anhand von Geschichten, die ihr andere Kinder erzählt hatten, vermochte sie nicht zu sagen. Nahe dem Ende des Buches war sie auf eine Seite mit Fotografien von Leichen gestoßen, Schwarz-Weiß-Bildern grauer, wie Holz aufeinandergetürmter Toter. Sie hatte das Buch zugeschlagen, das Gesicht bedeckt und in ihre Handfläche gebrüllt, nach oben gegriffen und sich eine Faust voll Haaren ausgerissen. Zur Besinnung war sie erst wieder in der Krankenstation gekommen, wo sie an die Decke gestarrt hatte. Mittlerweile stand das Buch wahrscheinlich in einem vergessenen Regal derselben Bibliothek, alt und muffig, der Kunststoffüberzug des Schutzumschlags gesprungen, die Seiten vergilbt.
    Seyha erwähnte den anderen gegenüber nichts davon. Natürlich hätte sie es tun können, aber von dieser Art des Kummers musste Gem nichts hören. Sollten sie je aus diesem Albtraum entkommen, würde das Mädchen wahrscheinlich in ihre eigene Bibliothek eilen, um herauszufinden, worum es bei all dem Aufhebens ging. Das wäre auch durchaus in Ordnung. Vorerst jedoch musste Seyha für eine Art versöhnliches Ende sorgen.
    »Was als Nächstes geschah, weiß ich nicht mehr genau, vermutlich, weil ich so ausgedörrt war, dass ich selbst beinah gestorben wäre. Als die vietnamesische Armee ins Land einfiel, hat sie unseren Tross abgefangen. Unsere Peiniger wurden getötet, und uns hat man in ein Flüchtlingslager gebracht. Wann ich ins Waisenhaus kam, weiß ich nicht mehr. Wie Bill schon sagte, ich war noch sehr jung.«
    Wieder bemerkte sie, wie trocken sich ihr Mund anfühlte. Sie war durstig. Wahrscheinlich eine unterbewusste Reaktion auf die Erinnerung an jenen Marsch. Allerdings herrschte in der Küche Schwärze wie in einer sternenlosen Nacht. Das Badezimmer besetzten Monster. Fast hätte sie gefragt, ob noch jemand Durst verspürte, entschied sich jedoch dagegen.
    Einige Minuten schwiegen alle. Seyha lehnte sich seitwärts an ihren Mann. Mittlerweile fühlte sie sich tatsächlich besser, an ihrer Lage hingegen hatte sich nichts geändert. Sie waren nach wie vor gefangen in diesem Haus, das sich in ein Gefängnis verwandelt hatte. Nur in ihrem Inneren fühlte sie sich ein wenig reiner.
    Zumindest bis Bill das Wort ergriff. Bis er mit seiner Frage die soeben geräumte Kluft in ihr mit frischem Schmerz erfüllte, ihre Schuldgefühle erneuerte.
    Ich habe mich gegen dich versündigt, mein wunderbarer, liebender Mann. Ich habe dir ins Gesicht gespuckt, und du wirst es mir nie verzeihen. Du darfst es nie erfahren, niemals. Und es tut mir so unendlich leid.
    Bills Emotionen erstreckten sich von einem nachgerade schmerzlichen Wiederaufflammen der Liebe für

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