Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Plage der Finsternis - Keohane, D: Plage der Finsternis

Titel: Plage der Finsternis - Keohane, D: Plage der Finsternis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Daniel G. Keohane
Vom Netzwerk:
diese Worte einer anderen Person gegenüber ausgesprochen, nicht einmal Bill gegenüber. Statt des erwarteten Schmerzes oder Gefühls, die Kontrolle zu verlieren, verspürte sie einen Anflug von Kraft, wenngleich gering und vermischt mit Wut. »Ich hatte drei Schwestern, alle älter als ich. Von zweien weiß ich so gut wie nichts mehr, aber an die älteste erinnere ich mich ein wenig.« Sie wandte den Blick ab. Was sie sagte, hörte sich nicht richtig an. Nachdem sie so viele winzige Einzelheiten so lange für sich behalten hatte, erschienen sie ihr nun, da sie laut ausgesprochen wurden ... falsch .
    »Was ist?«, fragte Joyce.
    »Nichts. Ich ...« Etwas in ihrer Brust schmerzte. Nein , dachte sie. Sei stark. Panik wallte in ihr auf und breitete sich in ihren Bauch aus. Mit geweiteten Augen sah sie Joyce an. »Ich ... ich bin nicht sicher. Sie war meine Schwester oder meine Cousine.« Ein Lachen entfuhr ihr, kurz und abgehackt, das erste Anzeichen von Wahnsinn. Ihre Stimme überschlug sich, wurde schrill. »Jetzt, da ich es ausspreche, weiß ich plötzlich nicht mehr, ob sie meine Schwester, meine Cousine oder bloß ein Mädchen aus meinem Dorf war. Jedenfalls stand mir dieses älteste Mädchen nah. Ich erinnere mich daran, dass sie mal mit mir gespielt hat. Aber ...« Dunkelheit säumte die Ränder ihres Blickfelds. Nicht die Finsternis, die sie alle bereits zweimal verschlungen hatte. Diese Dunkelheit hatte keine Masse, keine Textur. Dennoch wurde ihre Sicht immer trüber. Werd nicht wieder ohnmächtig , beschwor sie sich. Du bist so schwach .
    Bill stand auf und ging um den Stuhl herum. Er nahm sie in die Arme und führte sie wie eine hilflose Greisin nach vorn zur vorgewärmten Sitzfläche.
    Seyha starrte auf ihre im Schoß ruhenden Hände hinab. Am liebsten wäre sie gestorben. »Wie kann es sein, dass ich nicht weiß, ob sie meine Schwester war? Wie kann ich etwas so Einfaches nicht mehr wissen? Ich erinnere mich nicht einmal mehr an ihren Namen.« Ein weiteres freudloses Lachen. »Ist das zu glauben?«
    »Du warst noch ein kleines Kind, Sey.« Das war Bills Stimme.
    Sie lehnte sich auf dem Sessel zurück, schloss die Augen und wünschte sich Schlaf, wenn sie schon den Tod nicht haben konnte. Zu reden, war ein Fehler gewesen. Sie fühlte sich schlechter als zuvor.
    »Sey.« In Bills Stimme schwang ein harter Unterton mit. War er wütend?
    Sie öffnete die Augen und sah ihn an. Er saß auf der Armlehne des Sessels. Seine Füße ruhten auf dem Rand des Kissens neben ihr. Als sich ihre Blicke begegneten, lächelte er. Allerdings war es kein glückliches Lächeln. Tatsächlich konnte sie sich nicht entsinnen, dass er je elender gewirkt hatte.
    »Schon besser«, meinte er mit derselben nüchternen Stimme. »Du musst bei uns bleiben, dich konzentrieren. Du glaubst vielleicht nicht, dass dir das hilft, aber das tut es. Sagen wir vorläufig, sie war deine Cousine. Und sie stand dir nah wie eine Schwester.« Seine Hand legte sich auf ihre Schulter, drückte sie ein wenig zu fest. »Es spielt keine Rolle. Später vielleicht. Aber lass dich davon nicht beirren.«
    Er war nicht wütend, sondern bewies Stärke. Es fühlte sich gut an, ihn so sein zu lassen, zumindest vorläufig.
    Seyha richtete alles Augenmerk auf Bill. »Sie wollten sie und die anderen Mädchen mitnehmen. Ich denke, jeder wusste, weshalb. Ich nicht. Glaube ich jedenfalls. Sie, meine ... Cousine, war sehr hübsch, daran erinnere ich mich. Aber meine Erinnerungen sind sehr bruchstückhaft. Ich glaube, meine Mutter sagte: ›Nein.‹ Dann hat jemand sie erschossen. Einfach so ... erschossen. Ich hielt gerade ihre Hand. Als sie fiel, zog sie mich mit sich zu Boden. Ich weiß noch, dass ich ihr zurufen wollte, sie soll von mir runtergehen – sie war so schwer. Ich wollte es tun, wusste aber schon damals genug, um kein Wort zu sagen. Die Leute haben sich brüllend und kreischend um uns geschart. Ich bin unter meiner Mutter hervorgekrabbelt. Sie war tot.«
    Der lodernde Schmerz in ihrer Brust und ihrem Bauch ließ ein wenig nach. Er verschwand nicht völlig, wurde aber erträglich. Seyha weinte nicht, verspürte keine Traurigkeit. Vielmehr hatte sie sich noch nie leerer gefühlt als in jenem Augenblick. Und seltsamerweise empfand sie es als angenehm.
    Sie wagte einen Blick in die Runde. Gem sah aus, als könnte sie jeden Moment in Tränen ausbrechen. Ihr Gesicht war gerötet und verkniffen, als kämpfte sie mit Emotionen. Eine weinende Miene. So sehr Seyha das

Weitere Kostenlose Bücher