Plage der Finsternis - Keohane, D: Plage der Finsternis
eine blitzartig ausgeführte, liebevolle Berührung. Seyha hatte sich bei Bill nicht auf diese Weise zurückgehalten. Wie alles andere in letzter Zeit schürte die Erinnerung an jenen Schlag weiteren Selbsthass.
»Du verstehst nicht, was vor sich geht, Seyha, oder?«, fragte Angelique.
Seyha knirschte mit den Zähnen. In ihren Zorn mischte sich eine neue Emotion – Kummer, so schwer und tief, dass sie am liebsten gebrüllt hätte. Die Hand der Nonne schien das Gefühl zu bändigen. Vorläufig. Aber sie würde nicht weinen, nicht zusammenbrechen.
»Dein Herz ist hart. Du hast schreckliche Dinge gesehen.«
Ich werde ihr nicht zuhören. Ich lasse mich nicht von ihr manipulieren.
»Aber du hast auch ein solches Geschenk erhalten.«
Seyha wollte flüchten, doch die Hand auf ihrer Wange ... die Hand ...
»In gewisser Weise hättest du deine Familie wiederherstellen können. Du hättest jene ehren können, die du durch solche Gräuel verloren hast, hättest aus ihrer Asche neues Leben erschaffen können. Mit Liebe.«
Seyha schloss die Augen. Sie musste weg, aber wohin sollte sie? Es gab keinen Ort, an den sie flüchten konnte.
»Du hast deine Familie entehrt.« Die Hand drückte fester; die Finger krümmten sich auf ihrer Wange. »Du hast deinen Ehemann und die Gabe entehrt, die dir zuteil wurde.« Die Finger streckten sich und schlangen sich um Seyhas Hinterkopf.
Sie beschwor allen verbliebenen Zorn herauf und ließ den Arm emporschnellen, stieß die Frau von sich. Dann brüllte sie etwas Unzusammenhängendes und drehte sich in der Absicht um, zu den Kirchbänken zu laufen und sich zu verstecken, wie sie es als Kind getan hatte, bis Gott oder Satan es aufgäben und sie nach Hause schickten. Doch ihre Füße fühlten sich bleiern an. Jeder Schritt bedurfte mehr Kraft, als sie besaß.
Die Stimme hinter ihr wurde schärfer, rauer. »Du erkennst nicht einmal, was ich bin, Doung Seyha Watts!« Sie hörte sich nah an. Seyha zwang sich zu einem weiteren Schritt, und zu noch einem. Die Kirchbank erschien ihr hundert Meilen weit entfernt. Es kümmerte sie nicht mehr, wohin sie gehen sollte, sie wollte weg , nur weg.
»Finsternis gegen Licht. Verfall im Mantel der Freude, himmlische Freude getarnt als Schmerz von jenen, die mit dir in der Finsternis gefangen sind ...«
Seyha sank auf die Knie und kroch weiter. Ihre Hände fühlten sich wie mit Gewichten beschwert an, wurden auf die Bodenbretter gezogen. Die Schreie der Nonne rollten donnergleich über sie hinweg. »Es kann Freude geben in dieser Welt, und in der nächsten. Freude in der Akzeptanz dessen, wer du bist und woher du kommst. Lügen sind Dreck, der Gott ins Antlitz geschleudert wird!«
»Geh weg von mir! Geh weg!« Dutzende Hände packten ihren Kopf und ihre Arme, einige schmerzhaft, und zogen sie in entgegengesetzte Richtungen. Nägel und Klauen bohrten sich in ihre Haut. Wölfe griffen sie an, rissen sie in Stücke. Seyha kreischte. Sie verschwanden nicht.
Die Nonne brüllte weiter, rang gegen eine Unzahl anderer Stimmen, die sich zu dem Chor gesellten, um Seyhas Aufmerksamkeit. Gelächter, Gemurmel, gekicherte Worte, giftiges Zischen. Seyha wusste, dass sie nirgendwohin konnte, wo sie sicher wäre. An ihrer Haut wurde weiter gezerrt und gerissen, bis sie sich löste, sich von den Knochen schälte. Die Stimme der Nonne glich einer Mischung jener von Schwester Angelique und des Dämons, der sie zuvor heimgesucht hatte. Ihr gemeinsames Gewicht lastete auf Seyhas Rücken, presste sie heftiger und heftiger nieder.
»Sogar das, was du deinem Ehemann angetan hast, ist nicht so entsetzlich wie die Lügen, wie die Ehrlosigkeit, die du auf den Abfallhaufen in deinem Inneren getürmt hast. Du stirbst, Doung Seyha Watts!«
»Bitte ...«, wimmerte sie, kniff die Augen zu, versuchte nicht länger zu kriechen. Selbst, dass ihre Arme und Beine nur noch aus Hautstreifen bestanden, ihr Körper völlig verheert war, kümmerte sie nicht mehr. Kraftlos sackte sie zusammen.
»Wenn du deine Medizin nicht nehmen willst, muss ich sie dir die Kehle hinabstopfen.« Die Kreatur packte Seyhas Haar und zog ihren Kopf zurück, zerrte sie langsam und qualvoll auf die Beine. »Öffne die Augen!« Der Schmerz loderte durch Seyhas Schädel. Sie hätte die Augen nicht zu öffnen vermocht, selbst wenn sie gewollt hätte – und sie wollte es eindeutig nicht. Sie wurde verschlungen. Würde sie die Lider aufschlagen, sähe sie nur den eigenen Tod. Brocken ihres Körpers würden in den
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