Plage der Finsternis - Keohane, D: Plage der Finsternis
Vielleicht. Es spielte keine Rolle mehr. Er liebte Seyha Watts von ganzem Herzen. Außerdem war es zu spät, um seinen Traum für seine Mutter zu erfüllen. Sie war tot, seit anderthalb Jahren bei Gott.
Seufzend drehte sich Bill um und lief den Hinterhof entlang, ohne zu wissen oder sich darum zu kümmern, wohin er ging. An der Straße blieb er stehen und schaute zurück. Selbst wenn es sich Seyha anders überlegte, würden keine Kinder aus einem Kombi oder Van krabbeln und zu ihrer Oma rennen können. Ihre Oma war gegangen.
Er wischte sich übers Gesicht.
O Sey, sagte er. Was stimmt nicht mit uns?
Die Finsternis trieb über das Dach heran, erfasste die Umgebung wie eine Flutwelle. Sie spülte über ihn hinweg.
Als sie sich wieder verzog, befand er sich allein im Wohnzimmer. Die Küche war wieder da, ebenso das Foyer und die Wand. Er sah sich um. Niemand sonst war zurückgekehrt.
Sey! , rief er, verdutzt darüber, dass er immer noch keine Stimme besaß.
Etwas landete krachend auf dem Boden. Das Geräusch stammte aus dem Schlafzimmer.
Es war Nacht. Die Luft fühlte sich warm an, Sommerluft mit einer kühlen Brise, die Gem ins Gesicht wehte und sanft durch ihr Haar strich. Sie drehte sich um, blickte durch die Insektenschutztür ins Haus. Stille. Keine Stimmen, kein Klirren von Besteck auf Tellern. Das einzige Licht stammte von der blauen Anzeige der Digitaluhr des Mikrowellenherds in der dunklen Küche – 00:49 Uhr. Spät. War dies dieselbe Nacht? Thanksgiving? Gem seufzte und hörte das Geräusch. Zumindest das war unverändert. Sich hören zu können, schmälerte den Albtraum ihrer Lage ein wenig. Nicht völlig, aber doch ein wenig. Sie wusste nicht, an welchem Zeitpunkt sie sich befand. Eine Weile verharrte sie auf der hinteren Veranda und fühlte sich verloren.
Dann drang eine neue Stimme leise durch die nächtliche Luft zu ihr. Gem erinnerte sich an Ray Lindus ferne Stimme in der einstigen Kirche. Unwillkürlich verspannten sich ihre Rückenmuskeln. Langsam drehte sie sich um und erkannte, dass es sich nicht um die Stimme eines Mannes handelte, sondern um die eines Mädchens. Gem trat ans Geländer, kniff die Augen zusammen – was in der Dunkelheit natürlich nichts half – und hielt nach der Quelle des Geräuschs Ausschau. Auf dem Hinterhof nebenan bewegte sich etwas. Natürlich nebenan , dachte sie. Wo sonst?
Eine Gestalt saß nach vorn gekrümmt auf einem Liegestuhl mitten auf dem Hof, unmittelbar hinter zwei Lichtkegeln, die aus dem fernen Ende des Gebäudes und aus dem Keller fielen. Beide erreichten die in der Dunkelheit sitzende Person nicht vollends. Gem setzte sich in Richtung der hinteren Stufen in Bewegung, ehe sie innehielt. Diese Szenen gehörten in irgendeiner Weise zusammen, wurden von einem Wahnsinnigen miteinander verwoben. Ihre vorherige Entscheidung, sich ans Drehbuch zu halten und die einzelnen Torturen hinter sich zu bringen, war am Strand nach hinten losgegangen. Aus einer Beteiligung ihrerseits würde nichts Gutes erwachsen. Daher beschloss sie, auf der Veranda in sicherem Abstand zu dem verwunschenen Haus nebenan zu bleiben, wenn es sein musste, die ganze Nacht. Sie legte die Hände auf das abblätternde Holzgeländer.
Ihre Arme sanken an ihren Seiten herab. Das Geländer war verschwunden. Das weinende Mädchen saß immer noch vorwärts gekrümmt auf dem Liegestuhl, allerdings nur einen halben Meter vor ihr. Gem schaute zurück und erblickte sich selbst am Geländer, von wo aus sie sich beobachtete. Der Anblick vermittelte ihr ein bizarres Déjà-vu. Sie sah sich selbst, wie sie sich selbst dabei sah, sich selbst zu sehen ... Gem wandte sich ab und Rebecca Lindu zu, wodurch das Schwindelgefühl nachließ. Es war tatsächlich Rebecca. Jünger als bei Gems letzter Begegnung mit ihr. Nicht viel älter, als sie selbst gerade war. Es fühlte sich merkwürdig an, dass die sechs Jahre Altersunterschied zwischen ihnen nicht mehr zu existieren schienen.
Rebecca hatte noch nicht bemerkt, dass sie Gesellschaft hatte. Gem nannte sie nie Bec, wie ihre Mutter es tat. Der Spitzname schien nicht zu ihr zu passen, trotz ihres punkigen Auftretens – das sie zu diesem Zeitpunkt noch nicht hatte. Soweit es Gem in der Düsternis beurteilen konnte, trug ihre Nachbarin einen schlichten blauen Pyjama. Nackte Füße ruhten im taunassen Gras. Derselbe Tau hatte bereits ihre eigenen Socken durchtränkt.
»Hallo«, flüsterte Gem. Sie wagte einen Blick zurück und sah sich immer noch auf der Veranda
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