Plage der Finsternis - Keohane, D: Plage der Finsternis
eine Armlänge von ihm entfernt befand. Ray grinste und verschränkte die kräftigen Arme vor der Brust. »Du denkst doch nicht wirklich, dass ...«
Nein , erkannte sie nun. Ich habe gar nichts gedacht . Nur gehandelt. Der Schrei, der in ihr emporgequollen war, während sie den Flur durchquert hatte, entrang sich im selben Augenblick, in dem ihre Hand emporschoss und ihm die Klinge unter die Arme rammte. Mühelos drang sie in das Fleisch unter seinem Brustkorb. Seine Arme schnellten zur Seite, als hätte er einen elektrischen Schlag erhalten. Seine Augen weiteten sich. Joyce zog die Klinge heraus, ohne den Blick von jenen verblüfften Augen zu lösen, die sich vor Schmerz und Furcht schlossen.
Etwas Heißes spritzte über ihren Arm. Sie stach erneut zu. Diesmal stieß das Messer auf etwas Unnachgiebiges und schabte darüber, was sich wie der gedämpfte Laut von Fingernägeln anhörte, die über eine Tafel kratzten. Ray wankte gegen die Theke und lehnte sich rücklings darüber. Seine Arme fuchtelten durch die Luft, tasteten nach ihren Handgelenken, während er die Augen nach wie vor gequält zukniff. Joyce drehte die Klinge und presste sie gegen die Rippe, bis sie in eine weitere fleischige Stelle darunter glitt. Dabei schrie sie unablässig, brüllte Worte, die selbst für sie keinen Sinn ergaben, spie jedes Quäntchen des Hasses hervor, den sie so lange und mühsam zu beherrschen versucht hatte.
Ray öffnete die Augen, rutschte an der Theke hinab und zog das Messer samt Joyce mit sich zu Boden. Sie folgte der Bewegung, ohne den Griff loszulassen, bis sie über ihm kniete. Ihr Arm zitterte, ließ die Klinge gegen einen Knochen vibrieren. Joyce verstummte. Ray schaute am Boden sitzend zu ihr auf – und lächelte.
Blut strömte über seine Unterlippe. Zwei Rinnsale aus den Nasenlöchern mischten sich dazu. Ein kleiner, wacker kämpfender Teil von Joyces Gehirn versuchte, einen klaren Gedanken zu fassen, und beharrte, das dies nicht geschehen sollte. Sie hatte ihn doch nicht in die Lunge getroffen. Oder doch?
Alles, was sich bisher zugetragen hatte, war Joyce schmerzlich vertraut gewesen.
Der lächelnde Ray setzte sich ohne wirkliche Verzweiflung zur Wehr, als schauspielerte er nur für sie. Dann sackten seine Schultern herab, und der Blick seiner geöffneten Augen verschwamm. Das Blut, das aus seiner Brust geschossen war und sowohl sein T-Shirt als auch Joyces Morgenmantel durchtränkt hatte, versiegte zu einem Tröpfeln dessen, was die Schwerkraft aus den Eintrittswunden sog.
Joyce rührte sich nicht. Sie wartete, was als Nächstes geschehen würde. Was sie als Nächstes tun würde. Nichts von alledem fühlte sich richtig an. Es erfüllte sie mit keinerlei Befriedigung, was es hätte tun sollen.
Der tote Ray drehte ihr den Kopf zu. Die glasigen Augen starrten immer noch blicklos ins Leere, als er sagte: »Woran das wohl liegen mag, Joyce, hm?« Ein letzter Blutschwall schwappte über seine Unterlippe. Den Rest schluckte er. Joyce atmete tief ein und wollte zurückweichen, doch Rays Hand packte sie am Gelenk und drückte die Klinge tiefer in seine Brust. »Das ist es doch, was du wolltest, oder? Wovon du geträumt hast.« Mittlerweile starrte er ihr eindringlich in die Augen. Er zwang ihre Hand zur Seite, drehte den Griff herum. Ein Ausdruck des Schmerzes verzerrte seine Züge. »Und«, stieß er keuchend hervor, »es wurde sogar mehr als das. Erst Selbsttäuschung, dann Geschichte. So ist das nun mal« – ein weiterer Ruck – »im Leben. Jetzt hast du deinen Wunsch.«
Joyce zitterte wie vor einer Kälte, die sie nicht empfand. Ihre Stimme hörte sich verängstigt und mitleiderregend matt an, als sie sagte: »Du bist tot.« Noch während sie es aussprach, wusste sie, dass es nicht stimmte.
Er hörte auf, ihr Qualen vorzuspielen, und sah sie mit ausdrucksloser Miene an. Sofern seine Züge etwas vermittelten, war es träge Ungeduld. »Das hättest du wohl gern. Du hast das « – ein weiterer Ruck mit ihrer Hand – »so sehr gewollt. Es ist dir so leicht gefallen, dir einzureden, es sei wirklich passiert. Du konntest dich so viel einfacher damit abfinden, mich ermordet zu haben, als damit, dass ... Aber lass uns diese ganze Scharade einfach noch mal abspielen und sehen, was wirklich geschehen ist.«
Erneut versuchte sich Joyce von ihm zu lösen. Der Raum fiel plötzlich, stürzte in ein Loch. Nein , erkannte sie. Tatsächlich standen sie beide wieder.
Auf Rays T-Shirt prangte kein Blut mehr. Die Spitze
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