Plan D
»Und dabei muss es auch bleiben, Martin.«
Krächzen über ihnen, der schwarze Vogel sackte von oben ins Bild, trudelte in den Nebel, sank tiefer und schlug erst mit den Flügeln, als er schon fast den Rasen berührte, stieg wieder auf und verschwand im trüben Weiß.
»Damit nicht alles umsonst war, was du in den letzten dreißig Jahren getan hast«, sagte Wegener.
»Ja.« Brendel steckte den Revolver in die Manteltasche. »Und damit dir der Internationale Währungsfonds nicht demnächst dein Land unter dem Arsch weg pfändet.«
Wegener versuchte, ein Lächeln hinzukriegen. Er merkte, das hier war der Überlebensmoment. Solche Momente konnte man beobachten wie ein Glücksrad, das sich immer langsamer dreht, dessen kleiner Eisenarm den runden Bart aus Gumminoppen immer unwilliger passieren lässt, bis sich einer der Noppen nur noch biegt, aber nicht mehr durchkommt, kapituliert, zurückfedert, die Kreisfahrt stoppt, genau eine Stellung vor dem Punkt, an dem sie gestartet ist.
»Wie hast du deine Frau verloren?«, fragte Wegener.
»Krebs. Lymphdrüsenkrebs. Schon 1998. Wie kommst du jetzt darauf?«
»Ich dachte daran, dass uns nichts so sehr prägt wie ein Verlust.«
Brendel wippte mit den Füßen. Er zögerte ein paar Sekunden. »Und deine Karolina? Gibt es noch eine Chance?«
»Nein.«
»Gar keine?«
»Wenn man Dinge schon nicht abschließen kann, sollte man sich wenigstens darüber klar sein, dass sie nicht noch mal anfangen können.«
Brendel nickte.
Wegener räusperte sich.
»Ich nehme an, der Fall Hoffmann ist für dich erledigt?« Brendels Blick war so freundlich wie mitleidslos.
»Ich weiß, was ich wissen wollte.«
»Also hast du gewonnen.«
»Ich habe eher alles verloren, Richard. Aber selbst wenn ich wollte, könnte ich einem Mann wie dir nicht erklären, was das im Einzelnen bedeutet.«
»Versuch es.«
»Im Großen und Ganzen bedeutet es: Erkenntnis.«
»Erkenntnis gewinnt man. Demnach kannst du nicht verloren haben.«
»Sagen wir es so: ich kenne meine Niederlage.«
»Und das reicht dir.«
»Ich hab es wohl so gewollt.«
Brendel streckte seine Lederhandschuhhand aus.
Wegener stand auf und nahm sie. »Wann fährst du wieder rüber?«
Ein kräftiger, kurzer Druck. Das Handschuhleder war glatt und kühl.
»Heute Abend.«
»Wie war eigentlich der Steinpilz?«
»Was?«
»Der Steinpilz, den du im Wald gefunden hast.«
»Ach so.« Brendel verzog das Gesicht. »Voller Maden.«
Eine Minute, zwei Minuten standen sie nebeneinander, betrachteten den Nebel, der von einem leichten Wind verweht wurde, der sich lichten wollte, aber noch nicht konnte, wieder eine andere Sorte Stille, dachte Wegener, eine friedliche Stille, keine lauernde, sondern eine Naturstille, und vielleicht war das ja der große Unterschied, Drinnenstille und Draußenstille, vielleicht konnte es draußen einfach nie richtig still sein, weil immer noch irgendein anderes Wesen existierte, ein Maulwurf, eine Blindschleiche, eine Schnecke, ein Rabe, eine Ratte namens Richard, draußen war man nie wirklich allein.
Dann drehte Wegener sich um, ging an der Sockelrundung entlang bis zur Treppe, stieg die neununddreißig Stufen hinunter, spürte jetzt deutlich, wie schwer die kugelsichere Weste auf seine Schultern drückte, wie er unter diesem Ding schwitzte, das ihm den Rücken freihielt, aber nicht den Kopf, zerfetzte Nebelschwaden hingen über den Sarkophagen, Zierhecken, Soldatenbildern, kein Schuss krachte, nichts passierte, nur der Rabe krächzte noch ein paar Mal lustlos von irgendwoher, als Wegener schon die Treppe zum Granittor erreicht hatte, als die vier Wachposten ihn ohne Regung passieren ließen und sein Minsk vibrierte.
»Frank.«
»Martin, wo bist du?«
»Ich gehe auf einem Soldatenfriedhof spazieren.«
»Jeder verbringt Freizeit auf seine Weise. Warum ich anrufe: Gerade meldet sich eine Streife, die haben am Müggelsee einen weißen Phobos mit roten Ralleystreifen gesehen, konnten aber nicht dranbleiben. Wir hatten den die ganze Zeit in der Fahndung drin, jetzt hab ich mich gefragt, ob ich das überhaupt noch ans K5 weiterreichen muss, oder o b …«, aber Wegener hörte nichts mehr, rannte schon über den Stalinboulevard auf die Mutter-Heimat-Figur zu, bog rechts in Richtung Ausgang ab, merkte noch, dass er zu schnell war, die Kurve zu scharf genommen hatte und auf dem nassen Laub ins Rutschen kam, dass ihn nichts mehr halten konnte, dass sein Minsk wegflog, als wollte es dem Raben hinterher, während er
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