Plan D
kommt als Wasserleiche wieder raus. Dieses Mädchen ist etwas wirklich Besonderes, und du bist höchstens der Schuhmacher, der den Hauptmann spielt, nicht mal besonders gut, nur mittelmäßig, gesteh es dir ein, wenn Martin Wegener diesem Mädchen gewachsen wäre, dachte Wegener, hätte er keine Löcher im Schädel und kein Abschleppseil an den Handgelenken.
»Mach mich los. Bitte.«
Maries Entengrützeblick tastete sein Gesicht ab, betrachtete es mitleidig, ihre Hand streichelte ihm über die Wange.
Wegener wurde schummrig. Er versuchte, ein Schlucken zu verhindern, aber sein Kehlkopf schluckte trotzdem, laut und schmatzend. Ein hilfloses, schwächliches Grunzen.
»In einer Stunde rufe ich den Notarzt an.« Marie stand auf. Die Vanillewolke verschwand. »So lang hältst du durch.«
»Ich muss mal.«
»Was musst du?«
»Pinkeln.«
»Das schaffst du auch ohne mich.« Marie hatte sich schon umgedreht, ging zum zweiten Mal den Hügel hinunter, verschwand zum zweiten Mal zwischen den Bäumen. Dann startete der Phobos, knatterte, musste in dieser Waldnässe ordentlich getreten werden um anzuspringen, der Motor ratterte, tuckerte, war plötzlich voll da. Die Rücklichter brannten rot, setzten ein paar Meter zurück, stoppten. Dann schob sich der Wagen an den dampfenden Trümmern seines invaliden Bruders vorbei auf den Waldweg und knatterte davon.
Die roten Punkte verschwanden oberhalb der Senke. Das Knattern wurde leiser. Nach einer Minute war nichts mehr zu hören.
Wegener roch die fettige Wolke aus Maries Auspuff, spürte, wie die Wolke den Hügel heraufkroch und ihn einhüllte, schmeckte das alte, schmierige Öl auf der Zunge. Die Pipeline tropfte auf sein Schirmdach, alle drei Sekunden ein Plopp, das die stramm gespannte Kunststoffhaut traf. Der Wind trieb den Inhalt der Zeitkapsel über den Waldboden, jagte Briefe, Gedichte, Fotos und Zeichnungen durcheinander, verstreute sie in alle Himmelsrichtungen, blies ein Stück Papier neben Wegeners Beine, darauf rote Schreibschrift, nur zwei Sätze:
Der Sozialismus ist die Zukunft der Menschheit.
Ich bin die Zukunft des Sozialismus.
Dann wurde das Blatt weitergetragen, von einer Seite auf die andere gewendet, blieb an einem kahlen Strauch hängen, befreite sich, wurde erfasst und in die Luft gezogen, trudelte, ein Windstoß nahm es mit, trug es in die Baumkronen, weit nach oben, wohin genau, war nicht zu sehen. Das Schirmdach versperrte die Sicht.
Wegener zog die Beine an und versuchte, sich trotz der Fesseln ein Stück zusammenzurollen, weit entfernt glaubte er Jan »Schmuso« Hermann zu hören, der in sein Mikrofon hauchte, fraglos Schatz, dafür hass ich die Zeit, leise Klavierbegleitung , das getrocknete Blut spannte als harte Kruste auf seiner Stirn und in seinen Mundwinkeln. Er fror.
Dann ließ er laufen. Der Urin sprudelte in Schüben aus ihm heraus, verteilte sich sofort in der Hose, wurde gierig vom Cord aufgesogen, lief ihm kitzelnd an den Oberschenkeln herunter, verschenkte eine angenehme Wärme und das schlechte Kindergewissen, ins Bett zu machen, war befreiend und beklemmend zugleich, lustvoll und verboten, gestern war’n wir noch Glückstagediebe, aber morgen schon blüht uns das Leid , Wegener zählte mit, zum zehnten, zum elften, zum zwölften Mal strömte ein neuer Urinschwall in die Hose, dann tröpfelte es noch ein bisschen nach und hörte erst auf, als der Hauptmann längst weggetreten war und die Blätter und Kinderbriefe und Strichmännchen so fröhlich um ihn herumtanzten, als wäre nichts gewesen. Als wäre nie irgendetwas passiert.
Danke & Empfehlung
Für unterschiedlichste aber folgenreiche Hilfestellung auf dem Weg bis hier danke ich Josef Fitz, der Literaturzeitschrift AM ERKER, Matthias Schmidt von Scholz & Friends Hamburg, Susann Rehlein, Klaus Schöffling un d – leider unbekannterweis e – Michael Chabon.
Für Anmerkungen zum Roman danke ich Christoph Hoenings, Melanie Hölting-Eckert, Martin Korte, Christian Kreis, Ida Schöffling, Tim Tepaße, Anna Marie Urban und Hartmut Urban. Danke auch an Alexander Rötterink für seinen engagierten Cover-Einsatz.
Mein ganz besonderer Dank gilt Juli Zeh und Simone Miesner. Ohne ihre Mitarbeit hätte Martin Wegener es erheblich schwerer gehabt, seinen ersten Fall erfolglos zu beenden.
Der wunderbare Gedichtband Nichtverrottbare Abfälle von Christian Kreis ist zum Glück keine Fiktion. Das Buch erschien im Mitteldeutschen Verlag und ist dort noch vorrätig und bestellbar, nicht nur
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