Planet America: Ein Ami erklärt sein Land (German Edition)
von Nirvana lebte eine Weile unter einer Brücke in Aberdeen, Washington, später in einem Pappkarton auf der Veranda eines Freundes, dann auf einer Couch in der Garage eines etwas netteren Freundes.
In Hollywood gilt Obdachlosigkeit in der Anfangsphase geradezu als Initiationsritus. Der Komiker Jim Carrey wuchs vorwiegend im Zelt auf, Sylvester Stallone schlief eine Weile im zentralen Busbahnhof Port Authority in New York, und der von mir verehrte William Shatner musste vorübergehend wieder in seinem Auto vegetieren, nachdem Raumschiff Enterprise abgesetzt worden war. Das nur als kleine Auswahl.
Armut ist in Amerika so normal, dass wir sie sogar romantisieren.
King of the Road , der Hit des Country-Sängers Roger Miller aus dem Jahr 1964 über das Leben auf der Straße, war kein Protestsong über die dunkle Seite des amerikanischen Traums und das Fehlen eines sozialen Netzes. Im Gegenteil: Er beschrieb das Obdachlosendasein geradezu als das ideale Leben in Freiheit – und feierte ganz nebenbei die amerikanische Einstellung, trotz widriger Umstände das Leben genießen zu wollen:
I smoke old stogies I have found
I know every handout in every town
And every lock that ain’t locked
When no one’s around.
I’m a man of means by no means
King of the road.
Ich paffe alte Zigarettenstummel von der Straße,
Ich kenne jede Suppenküche in jeder Stadt,
Und jedes Schloss, das nicht verriegelt ist,
wenn gerade keiner guckt …
Ich bin ein Mann von Welt ohne Geld –
Ein König der Straße.
Es gibt wenige Kulturen auf dieser Welt, die das Obdachlosenleben so positiv darstellen.
Interessanterweise musste das Lied aber doch zensiert werden, als es in den 60ern in der Familiensendung The King Show vorgestellt wurde. Es war nicht der tendenziell antikapitalistische Text über ausweglose Armut oder die positive Darstellung von Kriminalität, die Anstoß erregt hatten, nein – das Wort »cigarettes« kam darin vor. Kein Problem: aus »Ain’t got no cigarettes« wurde kurzerhand das weitaus subversivere »Ain’t got no regrets« gemacht – »Ich bereue nichts« …
Unser Lieblingsobdachloser ist der Hobo, der Wanderarbeiter.
Seit über 100 Jahren ruft die kleine Stadt Britt in Iowa im August die »National Hobo Convention« aus, bei der Hobos und deren Fans zusammenkommen, um die Kultur der Straße zu feiern. Die Hobos erzählen Geschichten, ein Hobo King und eine Hobo Queen werden gekürt, man marschiert in der Hobo-Parade mit und isst den traditionellen Hobo-Eintopf »mulligan stew« – im Freien natürlich.
Das Erstaunliche daran: Auch heute noch ist das Treffen so gut besucht wie eh und je. Und zwar auch von Hobos.
Der ohne Fahrschein mit dem Zug reisende Hobo ist kein Mythos. Die ersten tauchten im 19. Jahrhundert auf, als die Eisenbahn quer durch Amerika gebaut wurde, und die Subkultur erlebte ihren Höhepunkt zu Zeiten der »Großen Depression«.
Die Hobos besitzen tatsächlich eine eigene Kultur und eine eigene Sprache:
Im Hobo-Jargon ist eine »angellina« ein Hobo-Kind, das noch grün hinter den Ohren ist, ein »banjo« kein Instrument, sondern eine tragbare Bratpfanne; »boil up« – aufkochen – bedeutet, »sich schick machen«, weil man die Kleidung zuerst kochen musste, und »crumbs« sind keine Krümel, sondern Läuse.
Unterwegs hinterließen die Hobos gern auf dem Bürgersteig eingeritzte Zeichen: Ein Kreuz hieß »angel food« – ein Essen also, das man bekommt, nachdem man eine Predigt hat über sich ergehen lassen. Ein Dreieck mit Händen bedeutet: »Hauseigentümer ist bewaffnet«. Ein Kreis mit zwei parallelen Pfeilen meint: »Hau bloß ab hier!« Dagegen zeigt eine Katze an, wo eine nette alte Dame wohnt.
Gerade Obdachlose gehören zu unseren beliebtesten Mythen und Helden.
Die Legende von Johnny Appleseed hört jedes Kind in der Schule. Er wird in Liedern besungen und in Filmen gefeiert. Wir sehen ihn als lustigen Typen, der barfuß durch Amerika wandert, immer gut gelaunt, immer ein Lied auf den Lippen, als Hut eine Eisenpfanne auf dem Kopf, und statt mit seinem Schicksal zu hadern oder gar gegen einen herzlosen Staat zu protestieren, der ihm keine Arbeitslosenunterstützung gewährt, pflanzt er aus reiner Dankbarkeit für das schöne Leben hier auf Erden überall, wo er hingeht, Apfelbäume: »Und so kam der Apfel in den Wilden Westen, Kinder.«
Was die meisten nicht wissen: Die Realität war ein wenig anders als die Legende.
Bürgerlich hieß Johnny Appleseed John
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