Planet America: Ein Ami erklärt sein Land (German Edition)
Journalistin Barbara Ehrenreich in ihrem Buch Nickel and Dimed , für das sie recherchehalber zwei Jahre unter den »working poor« lebte.
In Zeiten, in denen sie dringend Arbeitskräfte brauchen, bieten Arbeitgeber fast alles an – kostenlose Mahlzeiten, Gleitzeit, Shuttle-Service zur Arbeitsstelle, Warenrabatte im Laden –, um bloß eine Lohnerhöhung zu vermeiden. Extras können sie nämlich leichter streichen, wenn die Nachfrage wieder sinkt.
Der Mindestlohn ist für viele Betroffene eine Falle, die dazu führt, dass sie am falschen Ende sparen:
Weil sie die Kaution für eine eigene Wohnung nicht aufbringen können, weichen sie in Motels aus, wo sie die Miete wöchentlich bezahlen können. Diese Motels sind langfristig aber teurer als eine Mietwohnung, denn Sparen ist selbst dann nicht drin, wenn man das Zimmer mit einem Freund teilt. Ohne eigene Küche können sie dort keine Mahlzeiten zubereiten oder gar auf Vorrat kochen. Sie weichen also auf Fastfood aus. Dadurch sind sie mangelernährt und anfällig für Krankheiten wie Diabetes. Nichtversicherte sparen dann Medikamente ein, was dazu führt, dass Krankheiten chronisch werden können.
Die größten Feinde sind die Arbeitgeber. Nicht, weil sie einem Böses wollen – ganz im Gegenteil, jeder Arbeitgeber bietet auch die Chance, Karriere zu machen und damit langfristig der Mindestlohnfalle zu entkommen –, sondern weil sie ihre Interessen viel besser durchsetzen können als Arbeitnehmer die ihren.
Vor allem die großen Einzelhandelsketten und Fabriken, die auf billige Arbeitskräfte angewiesen sind, investieren eine Menge Geld in die Effektivität ihrer Personalpolitik. Das fängt mit den vielen Bestimmungen an, die den Arbeitgeber schützen sollen und ganz nebenbei den Arbeitnehmer so weit schikanieren, dass er gefügig bleibt:
Der Arbeitgeber hat das Recht, einem jederzeit die Taschen zu durchsuchen; jedwedes Persönliche während der Arbeitszeit – Plaudern, Telefonieren oder Ähnliches – wird als »geklaute Arbeitszeit« ausgelegt; manche großen Firmen wie Walmart behalten den ersten Wochenlohn als Kaution zurück. Und natürlich verfehlen die verkürzten Kündigungsfristen, zum Teil nur zwei Wochen, ihre Wirkung nicht.
Dem Mindestlohnarbeiter wird täglich vorgeführt, dass er auf der untersten Stufe der sozialen Leiter steht. Schon die bizarren Einstellungsverfahren gewöhnen ihn daran. Diese Einstellungstests sind eigentlich Persönlichkeitstests. Auf eine Reihe von Behauptungen soll der Arbeitswillige mit »stimmt« oder »stimmt nicht« antworten:
–»Wenn etwas schiefläuft, liegt die Schuld beim Manager.«
–»Es ist in Ordnung, zu spät zur Arbeit zu kommen, solange man eine gute Ausrede hat.«
–»Manche Leute arbeiten einfach besser, wenn sie ein wenig high sind.«
Es geht hier nicht um Qualifikationen, nicht mal um richtige Antworten, sondern darum, den Arbeitnehmer zu belehren, wo in diesem Unternehmen sein Platz ist. Dass jemand von den »working poor« vielleicht von Haus aus ein verantwortungsbewusster, professionell eingestellter Mitarbeiter sein kann, erwartet niemand.
Um unmissverständlich klarzustellen, dass der Arbeitnehmer von vornherein verdächtig ist, wird oft ein Drogentest von ihm verlangt: Er muss drogenfreien Urin abliefern, um überhaupt für den Job in Frage zu kommen. Was natürlich zur Folge hat, dass es heute in Amerika einen regen Schwarzmarkt für in Kondome abgefüllten drogenfreien Urin gibt.
Die »working poor« haben drei wichtige Verbündete in ihrem Überlebenskampf – der Staat indes gehört eher nicht dazu.
Anlaufstelle Nummer eins ist die Familie. Erste Anzeichen einer bevorstehenden Rezession bemerke ich immer, wenn irgendwelche Nichten, die jung verheiratet sind und ein oder zwei kleine Kinder haben, wieder mal vorübergehend bei ihren Eltern eingezogen sind. »Ich dachte, ich wäre sie mit achtzehn los!«, witzelt dann meine Schwester, oder: »Jetzt kann ich endlich wieder mehr Zeit mit meinen Enkeln verbringen.«
Gleich danach kommen die Freunde – die springen dann ein als Mitbewohner, Geldverleiher, Babysitter, die auch mal eine Mitfahrgelegenheit oder im Notfall eine Couch übrig haben.
Schließlich die Kirche.
Wenn man in eine neue Gegend kommt, wo niemand aus der Familie wohnt, sucht man als Erstes eine Kirche auf. Egal, welche. Manchmal helfen die Gemeinden mit Lebensmitteln aus, aber noch wichtiger ist: Sie wissen, welche Hilfe man vom Staat bekommt. Sie fahren einen zu den
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