Planet America: Ein Ami erklärt sein Land (German Edition)
der Verweis darauf ist auch ein kleiner Trick, den Zeitungen anwenden, um bei Lesern das Adrenalin in die Höhe zu jagen. Es handelt sich dabei um die Gesamtzahl von Menschen, die in einem Zeitraum von einem Jahr jeweils mindestens eine Nacht auf der Straße verbracht haben. In jeder x-beliebigen Nacht des Jahres 2010 hingegen schliefen in den USA laut »Department of Housing and Urban Development« insgesamt 649.917 Personen unter freiem Himmel, weil sich ihnen keine andere Möglichkeit bot. In der nächsten Nacht – oder in der übernächsten – waren es schon wieder andere Personen.
Die Gruppe der »chronisch Obdachlosen«, die jeweils mehr als zwei Monate obdachlos bleiben, umfasst rund 100.000 Menschen – für ein Land mit einer Gesamtbevölkerung von über 300 Millionen eher wenig. Obdachlosigkeit ist nicht unser eigentliches Problem.
Im Jahr 2011 lebten jedoch 15 Prozent aller Amerikaner unterhalb der Armutsgrenze – also mindestens 45 Millionen Menschen. Das ist tatsächlich viel.
Ja, das ist beschämend – und wird kontrovers diskutiert. Seitdem man weiß, dass so viele Amerikaner arm sind, wird zwischen rechts und links heftig darüber gestritten, ob diese Zahlen realistisch sind. Die Linken glauben, die Zahl der Armen sei in Wahrheit noch höher, die Rechten behaupten, sie sei bestimmt viel niedriger.
Die Armutsgrenze liegt im Moment bei einem Jahreseinkommen von 22.350 Dollar für ein Elternpaar mit zwei Kindern. Unter Umständen, argumentieren die Rechten, ist das gar nicht so wenig. Zum Beispiel, wenn das Haus abbezahlt ist und man keine Miete zahlt. Oder wenn man dazu staatliche Zuschüsse erhält, zum Beispiel Essensmarken, die das Gesamteinkommen eigentlich über die Armutsgrenze heben, aber in der Statistik nicht mit eingerechnet werden. Überhaupt: Was ist mit den ganzen Bankern, die ihre Jobs bei Lehmann Brothers verloren und zwar Millionen auf der Bank haben, aber kein Einkommen – offiziell werden auch sie zu den Armen gezählt und dürfen sogar Essensmarken beziehen (allerdings nicht mehr lange, 2011 wurde doch tatsächlich endlich ein Gesetzesvorschlag eingebracht, nach dem niemand mehr Essensmarken beziehen darf, der ein Vermögen von einer Million Dollar oder mehr besitzt). Andererseits, sagen die Linken, wer in einer Stadt wie New York lebt und ein Jahreseinkommen von nur 22.350 Dollar hat, kann damit kaum die Miete zahlen.
Diese Kontroverse führte schließlich dazu, dass das Amt für Statistik (das »Census Bureau«) 2011 die Anzahl der Armen mit Hilfe anderer – besserer – Parameter neu berechnete. So kam es, dass nun nicht mehr 15, sondern sogar 16 Prozent aller Amerikaner unterhalb der Armutsgrenze leben. Die Rechten haben sich übrigens noch nicht dazu geäußert …
Unter den Armen gibt es eine Subkategorie, die uns besonderes Kopfzerbrechen bereitet: die Geringverdiener. Wir nennen sie »working poor« – arbeitende Arme. Für uns birgt der Begriff einen schrecklichen Widerspruch. Wir bringen es leicht fertig, die Armen, die von staatlichen Zuwendungen leben, als Taugenichtse zu beschimpfen. Zu arbeiten und trotzdem unterhalb der Armutsgrenze zu leben – das widerspricht jedoch dem amerikanischen Traum.
Die »working poor« schuften in Fabriken, Fastfood-Ketten und im Restaurant an der Ecke, sie putzen privat oder für Agenturen, sie füllen Regale in großen Supermarktketten wie Walmart – der größten der Welt – und tanken Autos auf. Und sind arm.
Viele haben gleich zwei Jobs, denn sie arbeiten für den Mindestlohn. Den gibt es seit 1938, und 2011 lag er bei 7,25 Dollar pro Stunde. Wer also 40 Stunden die Woche für den Mindestlohn arbeitet, kommt gerade mal auf 1.160 Dollar brutto im Monat. Die Armutsgrenze für den Einzelnen liegt aber bei 1.800.
Also arbeiten sie in zwei Jobs gleichzeitig. Und wenn sie krank sind, kommen sie trotzdem zur Arbeit, weil Krankentage nicht in ihrem Vertrag stehen. Am Feierabend können sie es sich kaum leisten, ins Kino oder ins Restaurant zu gehen. Stattdessen hängen sie bei Freunden und zu Hause herum, rauchen, trinken, sehen fern.
In diesem Billigsegment des Jobmarktes scheint das Gesetz von Angebot und Nachfrage ausgehebelt zu sein. In Gegenden, wo die Nachfrage hoch ist, bleiben die Stundenlöhne genauso niedrig wie in Bundesstaaten, in denen es zu viele Arbeitskräfte gibt. »In jeder Stadt, in der ich gearbeitet habe, wurden dringend Arbeitskräfte gesucht, aber die Stundenlöhne blieben relativ gleich«, schrieb die
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