Planlos ins Glueck
Tapferkeit, der die ganze Zeit über unter all der Angst verborgen gelegen hatte, zu lodern an. Wenn sie die Chance haben wollte, jemals wieder an dem Tattoo dieses Mannes herumzulecken, dann musste sie einen Weg finden, ihre jahrzehntealten Ängste zu überwinden. Sie musste lernen, wieder zu leben.
Die Herausforderung war gewaltig. Aber in Billy Chases Hinterkopf hatte Jane die einzige Motivation gefunden, die stark genug war, um ihr zu helfen, ihre Panik zu überwinden. Vielleicht gab es ja doch noch Hoffnung für sie.
Vierundzwanzig Stunden nach ihrem letzten Besuch bei ihrer Mom saß Jane schon wieder im Wohnzimmer ihrer Eltern. Sie war gekommen, um sich ihren Dämonen zu stellen. Ihre Mom war einkaufen, und ihr Dad arbeitete drüben in der Werkstatt. Und so saß Jane ganz alleine auf dem Sofa und klammerte sich so krampfhaft an dem Fotoalbum fest, dass ihre Finger schmerzten. Durch das offene Wohnzimmerfenster drang das Sirren der Geräte herein, mit denen Mac in der Werkstatt zugange war. Ein Motorrad ratterte am Haus vorbei und hielt vor der Garage.
Alles Geräusche, mit denen Jane seit ihrer Kindheit vertraut war.
Nachdem sie aufgehört hatte, sich durch die Betten zu schlafen, hatte sie es nicht mehr über sich gebracht, Mac in seiner Werkstatt zu besuchen. Zu viele seiner Kunden waren Männer, mit denensie irgendwann einmal abgestürzt war. Viel zu oft hatte sie aus der Werkstatt flüchten müssen, ehe Mac das anzügliche Glitzern in den Augen seiner Kunden bemerkte, wenn sie Jane erkannten.
Jetzt, wo sie darüber nachdachte, konnte sie kaum glauben, dass sie ihre Vergangenheit unbeschadet überstanden hatte. Dass es ihr wirklich gelungen war, ihre zweite Chance zu nutzen.
Jane sah wieder auf das Bild, das sie schon seit einer guten Viertelstunde anstarrte. Die meisten Fotos in dem Album waren gestellte Familienaufnahmen. Aber dieses hier war aufgenommen worden, ohne dass sie es merkte. Anstatt trotzig und mit provokantem Lächeln in die Kamera zu starren, saß sie mit um die Knie geschlungenen Armen auf der Motorhaube von Macs altem Truck und blickte in die Ferne. Ohne die gewollt erwachsenen Posen wirkte sie unglaublich jung. Traurig und verloren. Wie ein Mädchen, das ein erwachsener Mann nicht hätte berühren dürfen, ohne sich strafbar zu machen.
Sie zeichnete mit dem Finger den Rand des Fotos nach. Chase hatte recht. Sie war noch ein Kind gewesen. Und wenn sie heute so ein Mädchen im Ryders sehen würde, hätte sie Mitgefühl empfunden. Sie hätte sich gefragt, wer dieses Mädchen war und ob es Hilfe brauchte. Und ganz sicher hätte sie nicht gedacht, dass dieses Mädchen unverzeihliche Fehler gemacht hatte.
Wenn ich meiner Mutter vergebe, muss ich auch mir selbst vergeben.
Das Motorrad heulte wieder auf und ratterte davon.
Heute konnte Jane zu Mac in die Werkstatt gehen, wann immer sie wollte. Sie hatte sich so sehr verändert, dass kein Mensch sie erkannt hätte. Und dennoch tat sie es nicht. Es war ein Teufelskreis: Wenn sie sich weiterhin von ihrer Vergangenheit distanzieren wollte, konnte sie keine Zeit mit ihrem Stiefvater verbringen. Sie konnte nicht Macs Tochter sein und auch nicht Jessies Schwester. Wenn sie wieder sie selbst sein wollte, dann musste sie auch Dynasty sein.
„Jane?“, rief ihre Mutter von draußen. „Ich bin hier im Wohnzimmer.“
„Mac hat gesagt, dass du auf mich wartest.“ Ihre Mom kam mit zwei Einkaufstaschen beladen durch die Tür.
„Warte, ich helfe dir.“ Jane sprang auf und nahm ihrer Mom eine Tüte ab.
„Danke, mein Schatz.“
Sie half ihrer Mom, die Einkäufe wegzuräumen. Zu ihrer Überraschung erinnerte sie sich noch genau, was wohin gehörte.
„Jessie hat mich angerufen“, sagte ihre Mom. „Hast du gehört, dass der Schlosser schon unter Anklage steht? Jessie ist unglaublich erleichtert, dass sie den Typen gefasst haben. Er hat sich richtig Sorgen um dich gemacht, weil du doch alleine wohnst. Also, wir haben uns natürlich alle Sorgen gemacht.“
„Aber mir geht es gut, Mom.“
„Sicher? Du hast dich in letzter Zeit nämlich ein bisschen merkwürdig benommen. Ist alles in Ordnung?“
Jane starrte in den Küchenschrank, in dem sie gerade eine Schachtel Cornflakes verstaut hatte. Die Art Cornflakes, die Mac schon vor zwanzig Jahren gegessen hatte. „Es tut mir leid, Mom“, sagte sie leise.
„Was tut dir leid, Schätzchen?“
Sie konnte sich nicht bewegen, konnte ihrer eigenen Mutter nicht in die Augen sehen. „Es tut mir
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