Plasma City
abgemessen, quer über die einander überlappenden Einzelbilder hinweg, und herausgefunden, dass das Gelände exakt 144 Radien von der Bursary Street entfernt ist, wo die Flammenfrau erschienen ist.
Zwölf zum Quadrat ergibt 144. Eine Quadratzahl also. Die Länge der Speiseleitung, die Nabelschnur zur Energiequelle einer solchen Flammenfrau, muss immer einer solchen Quadratzahl entsprechen. 81 wäre besser gewesen, weil es das Quadrat eines Quadrats ist, aber man kann nicht alles haben.
Die Entdeckung hat einen kleinen Stromstoß durch Aiahs Nervensystem gejagt. Jetzt will sie das Archiv durchsehen, um herauszufinden, was sich vor den Wohngebäuden auf dem Gelände befunden hat.
Ihre Ohren knacken, als die Pneuma unter einem Hindernis durchtaucht, vielleicht ein Gebäude mit vielen unterirdischen Stockwerken oder ein unterirdischer Wasserlauf. Vorne im Wagen ist ein Videoschirm angebracht, ein helles, strahlendes Oval, das die Fahrgäste betäuben soll. Er ist mit einer dicken schusssicheren Scheibe geschützt und mit schweren Edelstahlbolzen gesichert, damit niemand auf die Idee kommt, ihn abzumontieren.
Die Lautsprecher des Wagens sind kaputt und brummen. Aiah kann die Dialoge nicht verstehen, aber das macht nichts. Sie kennt die Story auswendig.
Da ist zunächst die unerfahrene Anfängerin, eine hübsche blonde Frau mit gleichmäßigen weißen Zähnen und unschuldigem Herzen. Dann der alte Meister mit schneeweißen Augenbrauen, die an die Flügel einer Taube erinnern. Er ist grob, aber er hat ein Herz aus Gold. Der Meister beantwortet die dummen Fragen der Anfängerin und verbreitet damit seine mehr oder weniger optimistische Philosophie. Er erklärt ihr die Geomantie und macht einige Bemerkungen über den strahlenden Helden, der als Sohn des Metropoliten ungefähr tausend soziale Schichten über der Heldin steht, aber glücklicherweise ein paar große Probleme hat.
Auf dem Höhepunkt der Geschichte setzt sich die Anfängerin ans Steuerpult einer Sendekontrolle, legt die Hände um die kupfernen Handsender und schreit: »Keine Zeit für Erklärungen! Gebt mir sofort die vol le Leistung!« Und im Nu wird der Schurke besiegt, der Metropolit ist gerettet, und die Anwärterin und der Held gehen im botanischen Garten auf dem Dach seines Hauses zum Nahkampf über. Blende und aus.
Aiah hat den Film schon hundertmal gesehen und in ihrer Jugend wahrscheinlich tausend Bücher mit ähnlicher Handlung gelesen. Aber wenn sie es heute sieht, denkt sie nur: Wenn es doch immer so einfach wäre.
Wenn es sie nur in Wirklichkeit gäbe, diese freundlichen alten Meister, die ihr alles erklären können, die mit untrüglicher Sicherheit die Zukunft vorhersagen und die einem mit ein paar selbst erdachten Weisheiten einen sicheren Weg durchs Leben zeigen können. Wenn man nur nicht diese schier unglaublichen Summen für das Plasma ausgeben müsste, das beim Training verbraucht wird. Wenn die Ratschläge des Herzens doch wirklich unfehlbar wären.
Aber das System begünstigt nicht jeden, und da sie inzwischen sogar schon die Stimmen ihrer Barkazil-Vorfahren im Kopf hört, die darauf bestehen, dass sie es doch gleich gesagt hätten, kann sie sich kaum noch vorstellen, irgendwann einmal etwas anderes geglaubt zu haben. Wer Zugang zu Geld oder Plasma hat, hütet dieses Privileg wie seinen Augapfel. So ist es überall, so weit sie sehen kann. Vielleicht sind die Aufgestiegenen Meister anders, aber die sind außerhalb des Schildes. Ihre einzige Möglichkeit, die Ausbildung zu beenden, würde darin bestehen, das Rohmaterial zu stehlen und einen Gefängnisaufenthalt zu riskieren. Die einzige Möglichkeit, einen Lehrer zu finden, besteht darin, ihm haufenweise Geld zu geben, das sie nicht hat, oder ihm massenhaft Plasma zuzuleiten, das sie erst stehlen müsste – oder wenn sie Glück hat, kann sie ihm vielleicht auch ihren Körper verkaufen. Die einzige Möglichkeit, den Sohn eines Metropoliten zu treffen, besteht darin, sich von seinem funkelnagelneuen 79D überfahren zu lassen.
Vielleicht kann sie die Energiequelle der Flammenfrau finden. Vielleicht wird man sie loben, wenn sie ihre Arbeit gut macht.
Aber im Grunde erwartet es niemand von ihr.
Es gibt einen heftigen Luftzug, als der Pneuma-Wagen bremst. Mit einem Ruck, der ihr den Magen umdreht, wird der Waggon aus dem System heraus und zum richtigen Bahnsteig geführt. Summende Magneten senken die Geschwindigkeit weiter ab. Das helle Licht der Haltestelle dringt durch die Fenster
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