Plasma
sie bedrängen würde. Vielleicht bildete er sich sogar ein, dass sie nicht bemerkte, wie es um ihn stand. Seine Narben machten ihn sicher schrecklich befangen. Schüchtern. Er redete auch dann kaum, wenn er mit ihr allein war. Sie brauchten keine Ablenkung, während der winzige Funke zwischen ihnen wuchs.
Der lange Marsch allein war zu viel. Sie hatten beide nicht genug Kraft, um Newcombe zu beobachten und nebenbei nach Insekten und anderen Gefahren Ausschau zu halten, ihre Karten und den Kompass zu lesen, Wasser zu finden, Nahrung zu finden, ein Nachtlager aufzubauen. Ihnen war nichts anderes übrig geblieben, als die Unstimmigkeiten mit Newcombe in einem Gespräch auszuräumen und ihm dann wieder zu vertrauen. Auch er hatte nicht allzu viele Möglichkeiten. Was konnte er tun? Cam in einem Ringkampf das Gewehr abnehmen, dann Cam erschießen und Ruth als Gefangene behalten, mit Fußfesseln, damit sie nicht davonlief?
In diesem Punkt zumindest behielten sie und Cam die Oberhand. Im Camp legten sie sich immer dicht nebeneinander. Zwei waren nicht so leicht zu überwältigen wie einer, aber das gemeinsame Schlaflager vertiefte natürlich ihre Beziehung. In den kühlen Frühjahrsnächten bot Cam Wärme. Selbst wenn er seine Jacke und die Handschuhe anbehielt, war er viel weicher als der Boden. In der Nacht zuvor hatte sich Ruth an ihn geschmiegt. Sie wusste zwar, dass es falsch war, ihn zu ermutigen, konnte der tröstlichen Nähe aber nicht widerstehen.
Am meisten von all den Menschen, die zu ihrem Leben gehört hatten, vermisste Ruth ihren Stiefbruder. Nicht ihre Eltern, nicht ihre wenigen engen Freunde. Ari war immer ihre liebste Zerstreuung gewesen. Sie hatten noch keine endgültige Lösung für ihr Verhältnis gefunden, und das Problem würde für immer offen bleiben, nun, da er tot oder, was weniger wahrscheinlich schien, irgendwo unter den weit verstreuten Flüchtlingen verschollen war. Er stellte die perfekte Erinnerung dar. Gut und stark. Unzerstörbar. So viel stand fest. Selbst die Grausamkeiten, die er begangen hatte, gehörten zu dem leichteren Leben vor Ausbruch der Pest. Genau betrachtet, hatte er ihr sehr weh getan, weil er nie ganz erreichbar gewesen war. Nach dem Gesetz waren sie Geschwister, und die Angst, was die Leute denken würden, bestimmte ihr Handeln. Zweimal hatte er sie verlassen. Das dritte Mal war die Trennung von ihr ausgegangen. Es war das reine Chaos. Es war Leidenschaft.
Ruth Ann Goldman war als Einzelkind groß geworden, sehr wahrscheinlich zu ihrem eigenen Vorteil und zu dem aller anderen. Ihr Vater hatte als selbstständiger Software-Entwickler gearbeitet, ein brillanter und sehr gefragter Spezialist, der wenig Zeit für seine Tochter und noch weniger Zeit für seine Frau gehabt hatte. Dass er das Angebot ablehnte, werktags von neun bis fünf für eine einzige Firma zu arbeiten, verstand Ruth erst sehr viel später. Sie war ein lautes Kind, das gern herumsprang, Streiche spielte und nach Anerkennung hungerte, zu Hause und überall sonst – in der Schule, ebenso bei Gleichaltrigen.
Nach der Scheidung fand ihre Mutter einen besseren Partner, nicht so gehetzt und getrieben wie ihr erster Mann. Ruths Stiefvater war begeisterungsfähig und klug wie ihr Vater, aber er ließ sich stärker auf seine Mitmenschen ein, lebte auch bewusster, nachdem er seine erste Frau durch eine Krebserkrankung verloren hatte.
Sie waren nicht unbedingt die Patchwork-Familie aus The Brady Bunch, egal wie oft ihre Mutter diesen idiotischen Witz auch machte. Ruth teilte sich ein Badezimmer mit Susan und Ari – was für eine Dreizehnjährige, die immer ihre eigene Toilette und Dusche gehabt hatte, nervig und zugleich aufregend war. Die Cohens dachten sich nicht viel dabei, nur in Unterwäsche oder mit einem Handtuch um die Hüften hereinzuplatzen, wenn sie im Bad stand. Sie erinnerte sich an nackte Haut, Entschuldigungen und Türenschlagen – alles sehr dramatisch. Beide Stiefgeschwister waren älter als sie, Susan um vier Jahre, Ari um zwei, und sie nahmen es stets sehr ernst, sich zum Ausgehen herzurichten oder, in Aris Fall, nach Baseball- und Basketball-Schlammschlachten zu säubern. Ruth schaffte es oft genug, ihnen im Weg zu stehen.
Wenn Liebe wirklich nichts anderes als Körperchemie ist, dann hätte es niemanden verwundern sollen, dass der Stiefbruder und die Stiefschwester irgendwann zueinander fanden. Sein Dad und ihre Mutter passten gut zusammen, und die Anziehungskraft zwischen den beiden
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