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Plasma

Plasma

Titel: Plasma Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jeff Carlson
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Tritt durch das Menschengewühl im Zentrum von Leadville verfolgt werden konnten.
    Nikola Ulinow war ein vierschrötiger Mann, aber er blieb immer wieder stehen und ließ Passanten den Vortritt, die ihre Richtung änderten, um den Geschützstellungen aus aufgeschichteten Sandsäcken auszuweichen. Das erschwerte es den Agenten, ihn unauffällig zu beschatten. Er hatte durch seine Stop-and-go-Taktik bereits einen zweiten Mann entdeckt, der sich vergeblich abmühte, unsichtbar zu bleiben.
    Ulinow maß einen Meter achtundachtzig – oder six-two, wie die Amerikaner in ihrem knappen Slang zu sagen pflegten – und ragte normalerweise aus jeder Menschenmenge heraus. Und er hatte für einen Absolventen der russischen Raumfahrtbehörde einen beträchtlichen Umfang, mit breiten Schultern und einem mächtigen Oberkörper. Sein Hinken ließ ihn noch imposanter erscheinen. Die meisten Menschen machten automatisch einen Bogen um ihn, aber er hatte keine Eile. Es war zwei Tage her, seit er eine Ausrede gefunden hatte, sich in die Stadt zu begeben, und er prägte sich genau ein, was er sah.
    Er war eine Waffe. So ließ sich die Sache im Kern beschreiben, und so fühlte er sich auch, nicht hasserfüllt, aber mit einem festen Ziel vor Augen. Eine Waffe hasst nicht. Sie dient nur. Seine einzige Munition war das, was er ihnen mithilfe seiner Augen und Ohren stahl – und doch wurde er Tag für Tag gefährlicher.
    Er vergrub sich in seinem Mantel und hielt wie die meisten Zivilisten den Kopf gesenkt. Jedes Mal, wenn sein Blick umherhuschte, hatte er Angst, sich zu verraten. Jeder Schritt rückwärts oder zur Seite, um den Leuten auszuweichen, war mehr als nur ein bloßer Schritt. Er bewegte sich unter ihnen, als trage er eine Bombe mit sich herum, und es schien unfassbar, dass niemand spürte, was eigentlich anders an ihm war, an seinen Gedanken, an seiner Haltung. Er war der Feind.
    Vielleicht würde sich das ändern. Er hoffte es. Fast von Anfang an hatten sich sein Volk und die Amerikaner verbündet, obwohl diese Allianz aus wenig mehr bestand als Worten, die über den großen Teich hin und her gingen. Die Amerikaner hatten genug mit ihrem eigenen Überlebenskampf zu tun, und gegen Ende des zweiten Winters war Russland auf ein paar Millionen Flüchtlinge geschrumpft, die weder materielle Güter noch politischen Einfluss besaßen. Bis jetzt.
    Auf den ersten Blick war das der Grund, weshalb man Ulinow von der Raumstation zurück auf die Erde geholt hatte – als bewährten und vorzeigbaren Vertreter einer zerstörten Weltmacht, zweisprachig, geschult in der Kunst der Diplomatie, erfahren in der Zusammenarbeit mit Amerikanern, ja sogar in ihrer Führung. Aber er musste mehr sein. Sein Volk suchte verzweifelt nach einem Gegengewicht. Er hatte nichts dergleichen gefunden. So weit Ulinow das beurteilen konnte, baute Leadville seinen Vorteil aus. Allerdings nicht gerade im Eiltempo. Die Leute hatten auch ihre Probleme, aber jeder noch so kleine Fortschritt wirkte sich drastisch gegen den globalen Trend aus. Er hatte das mit eigenen Augen an Bord der ISS gesehen, als er auf den Planeten hinunterblickte und die Überlebenden nach und nach verstummten.
    Ihr wisst nicht, was für ein Glück ihr habt, dachte er und ertappte sich dabei, dass er zu lange aufschaute. Er bekam Blickkontakt zu einem sonnenverbrannten Army-Corporal, der in voller Kampfausrüstung – Helm, Parka, Handschuhe und Maschinenpistole – an der Fußwegkante stand. Die Miene des jungen Soldaten erstarrte, und Ulinow überlegte besorgt, was der Mann in seinen Augen gelesen hatte. Neid? Wut?
    Ulinow wagte es nicht, sich umzudrehen. Die beiden Geheimagenten durften auf keinen Fall das Gefühl bekommen, dass er ihre Anwesenheit bemerkt hatte, und doch ging eine Bitterkeit von ihm aus, die sich wie ein Schrei Bahn brach.
    Ihr habt ja keine Ahnung, wie gut es euch geht.
    Die neue Hauptstadt der USA befand sich eingebettet inmitten weißer Berggipfel auf einem Plateau in 10150 Fuß Höhe. Es hatte dort oben nie viele Bäume gegeben – und seit dem ersten Winter, als man dringend Brennholz gebraucht hatte, gab es überhaupt keine mehr. Leadville war eine Ansammlung alter Backsteinhäuser und moderner Betonbauten. Zwei Heimatmuseen und ein gut erhaltenes, im Jahr 1870 errichtetes Opernhaus gaben der Hauptstraße ihr Gesicht.
    Selbst im 21. Jahrhundert vermittelte der breite Boulevard noch das Flair einer amerikanischen Grenzstadt, durch die Pferdekutschen und Planwagen rollten. Vor

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