Plasma
Rocklin, ein gutes Stück weiter nordöstlich.
Das Trümmerfeld verschwand unter einem Tornado von Insekten. Angezogen von dem Blut und den Leichenteilen an der Absturzstelle, überschwemmten Ameisen den Boden, während Fliegen in dichten Trauben über dem Wrack kreisten. Die drei Gefährten hatten versucht, dem Gewusel zu entgehen, ohne zu wissen, wodurch es verursacht wurde, bis Newcombe den Rumpf inmitten des Insektenschleiers erkannte. Der größte Teil war die gewaltige Nase einer C-17 Globemaster III. Der erste Tote, den sie am Vortag knapp zehn Meilen von hier entfernt entdeckt hatten, musste sich an Bord dieses Transporters befunden haben.
Mein Gott, dachte sie, mein Gott! Sie wollte sich den Ablauf der Ereignisse gar nicht vorstellen. Das in Stücke gerissene Flugzeug. Die Männer, die in die Tiefe trudelten. Die tiefen Krater, wo immer die anderen Teile der C-17 aufgeschlagen waren. Obwohl sie in ihrer dicken Jacke schwitzte, spürte Ruth, wie ein Frösteln sie überkam. Es spielte keine Rolle, dass sie die Verbündeten nicht gebeten hatte, sie abzuholen. Diese Soldaten waren für sie gestorben, und ihr Heldentum war etwas, für das sie sich nie mehr revanchieren konnte.
Sie schloss die Augen. Sie wollte beten, aber sie glaubte nicht mehr an die Kraft der Gebete. Gott war für Ruth nur ein Ausruf der Bestürzung, ein Wort des Nachdrucks. Doch das Ritual erinnerte sie an ihren Stiefvater und seinen stillen Glauben. Dann stiegen Zorn und Eifersucht in ihr hoch, und sie schaute wieder auf. Das Atmen fiel ihr schwer.
Sie stank wie die beiden anderen nach Benzin und Insektenschutzmittel. Gereizt durch die Fliegen, die sie trotz des Parfums in immer größeren Schwärmen umkreisten, die gegen ihre Schutzbrillen prasselten und zwischen Kragen und Kapuzen zu kriechen versuchten, hatte Cam die einzig wirksame Gegenmaßnahme ergriffen und ihre Jacken mit Benzin und ganzen Flaschen von Insektenschutzmittel getränkt. Stumpfe Nägel bohrten sich schmerzhaft in Ruths Schläfen.
»Was glauben Sie?«, fragte Cam. »Vierzig Mann? Fünfzig?«
»Nichts wie weg von hier«, entgegnete Newcombe und nahm seinen Rucksack auf. Dann drehte er sich um und fügte eine Spur zu laut hinzu: »Ja. Das bedeutet, dass insgesamt wahrscheinlich hundert Mann an Bord waren.«
Irgendwo abgestürzt wie der erste Tote, den wir fanden, dachte Ruth. Aber sie sagte nichts. Sie wollte ihre Begleiter nicht provozieren. Cam und Newcombe mussten noch lernen, was sie längst beherrschte – auch die Argumente zu hören, die der andere nicht aussprach. Deshalb gerieten sie oft noch aneinander, nachdem das Wesentliche längst gesagt und getan war.
Ruth versuchte die Diskussion zu beenden, bevor sie begann. Stumm eilte sie Newcombe nach, und Cam folgte ihr. Sie schlugen ein scharfes, kräftezehrendes Marschtempo an. Ruth sah das Skelett eines Hundes und ein Geldbündel und dann eine rote Bluse, die überhaupt nicht verblasst war. Ansonsten stumpfte das Ausmaß der Zerstörung ab – Autos, Knochen, Müll, Knochen und ihre Gedanken wanderten im Kreis, während sie sich voranquälte.
Hundert Mann, dachte sie. Hundert Mann mehr, die meinetwegen sterben mussten. Sie wusste, dass diese Sicht nicht gerecht war. Sie hatte nie den ersten Schritt getan, sondern von Anfang an versucht, die Katastrophe abzuwehren. Niemand konnte ihr die Schuld an der Maschinenseuche geben. Und doch glaubte sie irgendwie, sich verteidigen zu müssen. Weil sie nicht genug getan hatte. Weil sie nicht gut genug gewesen war.
»Wir müssen noch einmal überdenken, wie wir vorgehen«, sagte Newcombe.
Cam schüttelte den Kopf. »Das wäre reine Zeitverschwendung.«
»Dieses Flugzeug war ein Bekenntnis zu unserer Sache.«
»Ich will nicht darüber diskutieren, Newcombe.«
Die Versuchung, Newcombe recht zu geben, wuchs mit jeder Stunde. Ruth war unsäglich müde. Sie dachte zwanghaft über ihren Arm nach. Wuchsen die Knochen auch richtig zusammen? Cam war viel schlimmer dran als sie, aber er ließ sich dadurch nicht von seinen Zielen abbringen.
»Ich verstehe nicht, was Sie wollen«, meinte Newcombe. »Das Chaos da hinten, das waren hundert Jungs, die von Anfang an wussten, dass sie ziemlich schlechte Karten hatten, selbst wenn es ihnen gelungen wäre, uns aufzustöbern – und so weit kam es gar nicht, oder? Dennoch meldeten sie sich für den Job.«
Ruth drehte den Kopf zur Seite. Diese Geste wurde mehr und mehr zur Gewohnheit, als wollte sie nicht sehen, was vor ihr lag.
Weitere Kostenlose Bücher